Herr, send' Hirn!

"Du bist nicht allein!" Der zentrale Satz aus dem Jingle von "Big Brother" ist zugleich Verheißung und Drohung. Allein sein, welches zoon politikon will das schon? Aber nie allein? Bei "Big Brother" macht man die Probe aufs Exempel. 24 Stunden Kamerabeobachtung bis an den Rand der Bettdecke und natürlich auch aus dem Duschkopf. Schon vor dem Start der Sendung schlugen die Wellen hoch, besonders die der bürgerlichen Kulturkritik. In bekannter Bigotterie wurden wieder einmal die Menschenrechte an den Haaren herbeigezerrt. Abschiebeminister Otto Schily, wenn es um den brutalen Rausschmiss von "Ausländern" geht, durchaus nicht zimperlich, sah in B.B. einen "massiven Verstoß" gegen Artikel 1 GG. Dabei braucht man im Schily-Land nicht erst in einen RTL2-Container mit Überwachungskameras zu ziehen, damit Artikel 1 nicht mehr gilt - es genügen ein paar Tage in einem beliebigen Abschiebeknast. Und die Westerwelle menschelte, bei B.B. seien "die Grenzen der Freiheit hin zur Beliebigkeit überschritten". Das säuselt einer, dessen Partei (wie fast alle anderen) genau das predigt: die total(itär)e Beliebigkeit der "Flexibilisierung", in der jeder Mensch "allzeit bereit" zu sein hat, sich dem Kapital in Dienst zu stellen.

Im Verlauf des TV-Experiments am Menschen wurde es dann zunächst etwas ruhiger. Schon nach wenigen Sendungen brach die Quote zusammen. Grund: Abgesehen von ein paar nackten Frauen-Popos beim Betreten der Dusche war im WG-Labor nichts Interessantes zu entdecken. Da unterhielten sich Normalos, manche mit erheblichem Proll-Touch, über das, worüber man sich so unterhält, um die Langeweile zu vertreiben. Dass alle Arbeitslosen sofort kein Geld mehr bekommen dürften, damit sie endlich wieder zur Arbeit gehen, meinte B.B.-Hausbewohner "Alex". Aber das kann man auch in jeder Eckkneipe hören, wenn es nicht gerade mal wieder irgendwelche Kapitalistenvertreter fordern. Nichts Ungewöhnliches also.

Psychologen traten auf den Plan. Dass eben gerade das Normale das Faszinierende sei. Von der Quote wurden sie allerdings Lügen gestraft. Die sank weiter. Vergeblich versuchten die Menschenbild-Abzocker hinter den Kameras, Konflikte im B.B.-Haus anzuheizen. Mit nur mäßigem Erfolg. Denn die gemeinsame Haftsituation schweißte die Bewohner eher zusammen, als sie zu entzweien. B.B.-Veranstalter Endemol hatte die Rechnung ohne eine wichtige soziale Größe gemacht: die Tendenz zur Selbstorganisation. Seither droht das Experiment aus dem Ruder zu laufen, eigene Dynamiken zu entwickeln - und das macht es wieder interessant.

Denn B.B. ist weniger ein TV-Ereignis - mit den üblichen Nebenwirkungen wie massenweise Fanpages im Internet, dem Zlatko-Hype (ein ganz gewöhnlicher Depp wird plötzlich zum Star, zur Sternschnuppe, die alsbald wieder verglühen wird). B.B. ist vor allem ein Lehrstück in Sachen des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit. "Das Private ist politisch", das war einst eher Forderung als Feststellung einer Linken, die in der Privatheit, der Zurückstutzung jeden Glücksverlangens auf "my home is my castle", wo dann der Staat ausnahmsweise nichts zu suchen hatte, ein konterrevolutionäres Moment witterte. Inzwischen hat aber der Kapitalismus selbst an wirklich Privatem kein Interesse mehr. Im Kleinen ist das Individuum nur als individuell uniformierter Absatzmarkt interessant. Im Großen ist die "Globalisierung" sozusagen das Ende der Privatheit jeder nationalistischer "splendid isolation". Der flexible Mensch hat seine privaten Wünsche als solche von Öffentlichkeit zu formulieren, als "Standorte", die es zu verteidigen gilt und die nur in der "Volksgemeinschaft" überhaupt noch als verteidigbar empfunden werden. (VW-Arbeiter, die nicht ihren Arbeitsplatz verteidigen, sondern mit dem Vorstand gemeinsame Sache machen, um VW "als Ganzes" gegen die globale Konkurrenz von z.B. japanischen Autobauern zu verteidigen.) B.B. ist davon das mediale Zerrbild - verzerrt zur Kenntlichkeit.

Ein anderer B.B., Bertolt Brecht, strengte 1931 den "Dreigroschenprozess" an. Dabei ging es um die Verfilmung der "Dreigroschenoper", die Brecht aus der Hand genommen worden war. Im Prozess klagte Brecht sein Urheberrecht ein, von vornherein wissend, dass es im Kapitalismus ein Recht auf geistiges Eigentum nur dann gibt, wenn es dessen Mehrwertschöpfung nicht im Wege steht. Der Prozess als "soziologisches Experiment", um genau das zu demonstrieren. Brecht: "Sicher schien uns nur, dass selbst wenn uns Recht gegeben würde, nur dadurch bewiesen wäre, dass unsere Gesetze völlig veraltet sind. (...) Es gibt kein Recht außerhalb der Produktion. (...) Der Kapitalismus ist in der Praxis konsequent, weil er muss. Ist er aber konsequent in der Praxis, dann ist er inkonsequent in der Ideologie. (...) Die Wirklichkeit kommt dann an den Punkt, wo das einzige Hindernis für den Fortschritt des Kapitalismus der Kapitalismus ist."

An so einem Punkt befindet sich der Kapitalismus heute wieder. Privatheit ist nur als Ideologie aufrechtzuerhalten. "Big Brother" führt das vor. Und zeigt zugleich, wie sich Privatheit, etwa die Freundschaft zwischen "Zlatko" und "Jürgen" oder - jüngst als solche bewiesen - von "Manuela" und "Kerstin", gerade unter den Bedingungen konsequenter Veröffentlichungspraxis wieder konstituiert. Getreu der Umkehr des alten Spontisatzes, nämlich dass Öffentliches auch privat ist.

B.B. als "soziologisches Experiment" das - so nicht geplant von Endemol und RTL2 - eigendynamisch stattfindet. Eine Feldstudie, die gerade Linke ernst nehmen sollten: als Feld neuer Fragen, die über die "klassische Theoriebildung" hinausgehen, eben weil sie eminent praktisch sind. Denn wenn die CDU-Bundestagsabgeordnete Maria Böhmer jetzt fordert, B.B. sofort abzusetzen, weil "die Teilnahme an der Sendung für die Darsteller nicht wirklich freiwillig ist, da sie sich mit viel Geld dazu verführen lassen, dass ihre Menschenwürde eingeschränkt wird" (sic! - man lasse sich diese Argumentation auf der Zunge zergehen!), dann sieht man die veraltete kapitalistische Ideologie am Werk, die von der kapitalistischen Praxis längst überholt ist.

(jm)