Anti-AKW

Zeitvergeudung: Der Atomkonsens

Gemein: Konsensgespräch findet ohne Trittin statt, berichtete die WamS am 29.5. Bundeskanzleramt, Wirtschaftsministerium und Energiekonzerne sollen sich Ende Mai angeblich schon ganz nahe gekommen sein (igitt!) und hätten sich schon auf einen Rahmenvertrag verständigt, ohne dass der BMU überhaupt informiert worden wäre. Stimmt gar nicht, dementierte Trittins Pressesprecher Michael Schroeren. Fragt sich nur, woher der das wissen will ... Aber gemach - inhaltlich macht die Anwesenheit eines Grünen ohnehin keinen Unterschied. Zwischenzeitlich wollten die Olivgrünen schon einen "kleinen Konsens" der bisher erzielten Einigungen festschreiben, aber dann war das gar nicht mehr nötig.

Seit dem 3.6. weiß "Focus": der "Konsens" ist geschafft! Toll, wie die Handschrift der AKW-Gegner zu erkennen ist! Nun wird sogar Mülheim-Kärlich in die Verrechnung von Terawattstunden einbezogen, die der Meiler nie geliefert hätte. Dadurch sollen die letzten AKWs (vielleicht) 2025 bis 2029 abgeschaltet werden - es ist kaum anzunehmen, dass irgendeiner der neueren Meiler dieses Datum technisch und betriebswirtschaftlich erleben wird, nach einer Laufzeit von über 40 Jahren! Aber welch ein Hurra bei der Hans-Wurst-Partei, deren Bundestagsfraktion dem "Kompromiss" am 15.6. mit großer Mehrheit trotz vereinzelten Gezeters zustimmte! Trittin und Schlauch geben offiziell eine "Regellaufzeit" von 32 Jahren an, aber das letzte AKW wurde 1988 in Betrieb genommen, da gibt es wohl auch Defizite im Strichrechnen. Der Gipfel der Vereinbarungen ist jedoch die Zusicherung, nicht nur bei freiwilligen Abschaltungen, sondern auch bei Betriebsunfällen mit Flächenverseuchung, die zum dauerhaften Ausfall eines Reaktors führen (Super-GAUs), dessen fiktive noch zu produzierende Strommenge auf andere, noch heile AKWs zu übertragen, so dass diese länger laufen können.

Sicherheitsmängel haben also nicht nur keine Nachteile, sondern können im Einzelfall betriebswirtschaftlich sogar vorteilhaft sein. Umso mehr, als die Bundesregierung auf eine Nachbesserung der Sicherheitsbestimmungen in der Zukunft verzichtet - vertraglich garantiert. Vertraglich garantiert auch der "störungsfreie Betrieb" bis zum Auslaufen der Kraftwerke. Unter "Störung" sind hier ausschließlich gesetzgeberische oder aufsichtsbehördliche Maßnahmen zu verstehen und nicht etwa GAUs und Austritte von radioaktivem Dampf. Die Chefs der vier größten, kurz vor der Fusion stehenden Energiekonzerne VEBA, VIAG, RWE und VEW zeigten sich denn auch erleichtert, dass alles auf jeden Fall weiterläuft, selbst wenn ihnen mal ein Missgeschick passieren sollte, das ja jetzt qua definitionem kein "Störfall" mehr genannt werden kann.

Im Übrigen besteht die Einigkeit fast ausschließlich aus Genehmigungen für neue Atomanlagen: für die Inbetriebnahme der Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben, für Atommüllzwischenlager an den Kraftwerksstandorten, für das Endlager Schacht Konrad (und deswegen ein Moratorium beim Endlager Gorleben). Die Wiederaufarbeitung wird bis mindestens 2005 fortgesetzt.

Insgesamt dürfen die 19 deutschen Kernkraftwerke noch 2.623,3 Terawattstunden Strom produzieren. Das jüngste Kraftwerk, Neckarwestheim II, darf mindestens noch 21 Jahre laufen. Längere Laufzeiten sind aber möglich, zumal kein endgültiges Ausstiegsdatum festgelegt wurde. Für das 1968 in Betrieb gegangene älteste Kraftwerk Obrigheim gilt eine Sonderfrist von zusätzlich zwei Jahren bis Ende 2002. Der Energieversorger RWE erhält für sein still gelegtes Kraftwerk Mülheim-Kärlich in einer Sonderregelung zusätzlich 107,25 Terawattstunden, die er z.B. frei auf den jüngeren Meiler Emsland übertragen darf. Der dürfte dann bis etwas 2029 am Netz bleiben.

Wie man schon an der Wortwahl hört: Die Vereinbarung sieht generell vor, dass die Energieversorger viel "dürfen" und fast gar nichts "müssen". Aus ihrer Sicht eine Verbesserung gegenüber CDU-Zeiten. Nicht so für die BI Lüchow-Dannenberg und die IG-Metall Salzgitter. Wolfgang Ehmke und seine Weggefährten im Kampf gegen ein atomares Endlager in Gorleben fühlen sich seit dem Berliner "Diktat" "betrogen, weil wir es waren, die mit unseren jahrelangen Protesten einen Konsens überhaupt erst zum Regierungsthema gemacht haben ... Nun werden die Auseinandersetzungen auf der Straße stattfinden." In dem Konsens-Papier finde sich nirgends die Spur eines Kompromisses - es sichere im Kern allein den Bestandsschutz der Atomreaktoren. Was Gorleben-Aktivisten der ersten Stunde, wie die 76jährige Marianne Fritzen, besonders entsetzt: "An keiner Stelle wird deutlich, dass die Atomkraft eine unbeherrschbare Risikotechnologie ist." Die Konsensrunde habe allein die Interessen der Wirtschaft bedient. Allerdings, das stellen die Wendländer gleichzeitig klar: "Einen gesellschaftlich getragenen Konsens kann es gar nicht geben." Von Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) oder Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) lasse sich in Gorleben niemand demoralisieren, hieß es am "trotz aller Verbitterung" kämpferisch.

Dabei wird gern an das legendäre Hüttendorf erinnert, das vor genau 20 Jahren von 5.000 Atomkraftgegnern auf dem Gelände des heutigen Endlager-Bergwerks bevölkert wurde. Kein Geringerer als Gerhard Schröder unterbrach damals einen Juso-Kongress, um den Bewohnern der "Republik Freies Wendland" seine Solidarität zu beweisen. "Das ist leider längst Geschichte", stellt eine Bäuerin fest.

In die Annalen eingegangen sind auch die Worte des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt (SPD). Bei einem Besuch im Wendland meinte er 1981, der Widerstand gegen atomare Pläne sei ein "Zug der Zeit", und die "Schreihälse" würden schon bald verstummen. Das Gegenteil sei nach dem von der Politik als großer Erfolg gefeierten Konsens der Fall: "Klar, dass die Auseinandersetzungen in der Region jetzt an Schärfe zunehmen werden", sagt die Fraktionsvorsitzende der Grünen im niedersächsischen Landtag, Rebecca Harms. Die Enttäuschung gerade bei Wählern der SPD und der Grünen sei zu groß, weil nichts Greifbares aus Berlin gekommen sei. "Wenn der Atomausstieg von oben nicht kommt, dann kommt er eben von unten, von der Straße", ist sich die Bürgerinitiative sicher.

Erstmals in der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung stehen sich auch Grüne und Gewerkschafter im Raum Salzgitter mit vertauschten Rollen gegenüber: Die Grünen wollen ein Atommüll-Endlager im Schacht Konrad, 4.800 Stahl- und Metallarbeiter wollen es nicht. Sie legten Ende Mai stundenweise die Arbeit nieder, bei VW Salzgitter stand der Betrieb ganz still. Die IG Metall hatte unter dem Motto "Handeln, bevor es zu spät ist" zu den Protesten aufgerufen (Homepage: www.ag-schacht-konrad.de).

Auch Parteimitglieder wie Hartwig Berger meinen, die Regierung mache in der Sicherheitsfrage "grundgesetzwidrige Zugeständnisse", und fragt sich, ob denn "Konzerne dieses Land regieren". Sogar bei der Strommenge habe es einen Freundschaftszuschlag bis zu 6,8% gegeben, und weiterer Streit sei nicht etwa beigelegt, sondern vorprogrammiert, da z.B. die Konzerne den Konsens jederzeit aufkündigen könnten. Besonders unmöglich findet er, dass gemeinsame Arbeitsgruppen aus Atomkonzernen und Regierung eingesetzt werden, die über die Umsetzung der Vereinbarung, aber auch Sicherheitsaspekte beraten sollen, mithin der Atomindustrie faktische Regierungsbeteiligung bietet. Das hat auch Greenpeace gemerkt: "Nach einem Störfall oder bei verstrahlten Castorbehältern wird die Regierung künftig kaum noch eigenständig Verbesserungen der Sicherheit anordnen können, sondern muss sich mit den Verursachern einigen", meint Energieexpertin Susanne Ochse.

Und wo die Grünen schon mal dabei sind, ihre Position zum Auto und zum Atom neu zu überdenken - warum nicht auch zum Plutoniumhandel und Technologie-Export: Die energiepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion, Michaele Hustedt, sagte dem "Handelsblatt" in Düsseldorf, die Fraktion wolle in den kommenden Tagen wahrscheinlich ihr OK zum Export der stillgelegten Hanauer Atomfabrik an Russland geben. Mit Hilfe einer Ausfuhrgenehmigung für die stillgelegte Hanauer Siemens-Brennelementefabrik sollen aus russischem Bombenplutonium MOX-Brennelemente für Atomkraftwerke entstehen, die auch wieder nach Deutschland exportiert werden könnten. In Russland kann man damit ohnehin nichts anfangen, denn die russischen AKWs sind für MOX-BE nicht ausgelegt.

Eigentlich aber erübrigt sich jeder Kommentar und jede Dokumentation zum Atomkonsens, so auch dieser Artikel. Der vereinbarte Konsens hat mit Politik nichts zu tun. Selbst wenn er fortbestehen sollte, dokumentiert er nur das Diktat der Ökonomie. Die Beschlüsse sind aller Voraussicht nach aber völlig irrelevant, weil der SPD nach der nächsten Bundestagswahl der olivliberale Partner fehlen wird. Und die CDU-Vorsitzende Merkel, die ja schon mal für die Atomanlagen in diesem Land zuständig war, hat bereits angekündigt: Nach dem Wahlsieg ist Schluss mit dem "Atomausstieg". Günstig, dass bis dahin nicht einmal die ältesten AKWs Obrigheim, Stade und Brunsbüttel abgeschaltet sein müssen. Bleibt nur die Frage, ob die Atomkonzerne das ausgehandelte Faustpfand überhaupt leichten Herzens wieder aus der Hand geben wollen. Und daran, dass die Politiker Angestellte der Wirtschaft sind, wird sich ja auch nach 2002 nichts geändert haben.

(BG)