Antifaschismus
Nachfolgend dokumentieren wir die Erklärung, mit der die Bundestagsabgeordneten der PDS Eva Bulling-Schröter, Carsten Hübner, Christina Schenk und Winfried Wolf ihre Enthaltung bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf "zur Errichtung einer Stiftung 'Erinnern, Verantwortung und Zukunft'" in der Bundestagsdebatte zu Zwangsarbeit begründeten:
Wir enthalten uns der Stimme bei den Abstimmungen über - den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung "Erinnern, Verantwortung und Zukunft" (DS 14/3206) - den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS zur 2./3. Lesung des Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung ... und begründen dies wie folgt: Wir begrüßen, dass mit diesem Gesetzentwurf mehr als ein halbes Jahrhundert nach der NS-Zeit der Deutsche Bundestag gegenüber den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern eine eigene Verpflichtung eingesteht und dass die deutsche Wirtschaft, insoweit sie die Stiftung mitträgt und finanziert, sich in allgemeiner Form mitverantwortlich für die Verbrechen des NS-Regimes erklärt.
Insbesondere begrüßen wir, dass mit diesem Gesetzentwurf es noch in diesem Jahr möglich sein kann, dass die überlebenden ehemaligen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen eine bescheidene - aber für alle hinsichtlich der Symbolik und für viele in materieller Hinsicht wichtige - finanzielle Entschädigung erhalten. Und wir wissen, dass viele unserer MdB-Kolleginnen und Kollegen, die für diesen Gesetzentwurf und für den Entschließungsantrag stimmen, dies insbesondere mit Blick auf diesen letzten Aspekt tun.
Wenn wir dennoch dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können und uns zur Enthaltung entschlossen haben, dann erfolgt dies insbesondere aus fünf Gründen:
(1) Wir enthalten uns, weil die Zielsetzung bei diesem Gesetzentwurf weniger die Verantwortung vor der Geschichte als der Schutz der deutschen Wirtschaft ist.
Der Gesetzentwurf verfolgt in erster Linie das Ziel, deutschen Unternehmen, die mit Exporten und Kapitalanlagen Interessen im Ausland haben, die Sicherheit für fortgesetzte profitable Geschäfte zu gewährleisten. Das allein war - erklärtermaßen - die Motivation der deutschen Wirtschaft, sich an der Stiftung zu beteiligen. Aus diesem Grund müssen sich ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die in den Genuss einer bescheidenen Entschädigung kommen, verpflichten, auf immer auf weitergehendere Schadenersatzansprüche zu verzichten.
Der Gesetzentwurf soll einen Schlussstrich ziehen, der weder moralisch noch hinsichtlich der in Frage stehenden Summe gezogen werden kann. Dass ein solcher Schlussstrich auch für die vielen hundert Unternehmen gilt, die sich nicht an der finanziellen Absicherung des Fonds beteiligten, jedoch von Zwangsarbeit profitierten, ist an diesem Gesetzentwurf in besonderer Weise zu kritisieren.
(2) Wir enthalten uns, weil Gesetzentwurf und Entschließungsantrag nur unzureichende Aussagen über die aktive Unterstützung der deutschen Wirtschaft für das NS-Regime enthalten.
Die deutschen Konzerne, Banken und Versicherungen haben sich in der NS-Zeit aktiv an dem umfassenden System der Zwangsarbeit beteiligt und das NS-System und den NS-Krieg direkt durch Spenden an die Nazis und mit einer Rüstungs- und Kriegswirtschaft unterstützt. Sie bezogen Milliarden-Gewinne aus millionenfacher Zwangsarbeit, während sie den Tod von Hunderttausenden Menschen in Kauf nahmen und oft selbst aktiv daran beteiligt waren. Diese Umstände werden in der Präambel zum Gesetz nur vorsichtig angesprochen, in der Begründung werden sie völlig verschleiert.
(3) Wir enthalten uns der Stimme, weil die Entschädigung, die die ehemaligen Opfer in der Gesamtsumme und auf individueller Basis erhalten, viel zu niedrig ist. Seriöse Berechnungen gehen davon aus, dass die deutschen Unternehmen aus der Zwangsarbeit und der Lohnvorenthaltung Vorteile bezogen, die heute einem Betrag zwischen 100 und 180 Mrd. DM entsprechen - also zehn bis 18 mal mehr als nun tatsächlich gezahlt werden soll. Dieser Betrag ist zunächst objektiv berechtigt: Ihm entsprachen reale Gewinne. Dieser Betrag passt aber auch durchaus in die aktuelle Finanzlandschaft: In diesen Tagen werden Summen in dieser Höhe und darüberhinaus allein dafür ausgegeben, dass ein Unternehmen ein anderes übernimmt (und dabei noch Tausende Arbeitsplätze zerstört). Im Fall Mannesmann/Vodafone-Airtouch waren es gar 240 Mrd. DM. Was auf dieser zerstörerischen Ebene der Fusionen jedoch als "normal" gilt, wird im Fall der gerechtfertigten Forderung zur Wiedergutmachung von Zwangsarbeit als "überzogen" dargestellt. So kommt es dazu, dass mit der gedeckelten Summe von 10 Mrd. DM viele Opfer - insbesondere aus dem so genannten "Rest der Welt" - keine oder nur eine marginale Entschädigung erhalten werden.
(4) Wir enthalten uns der Stimme, weil die Hauptverantwortlichen, die deutsche Wirtschaft, einen geradezu lächerlich geringen Betrag zur Verfügung stellen und weil die Hauptsumme von den Steuerzahlenden bezahlt werden muss.
Offiziell will die deutsche Wirtschaft 5 der zugesagten 10 Mrd. DM einbezahlen. Die von der Wirtschaft bezahlten Beträge können jedoch von der Steuer abgesetzt werden, so dass weitere 2,5 Mrd. DM Steuerausfälle für den Fall zu erwarten sind, dass die deutsche Wirtschaft ihre 5 Mrd. DM wirklich einzahlt. Doch selbst diese 5 Mrd. bzw. real 2,5 Mrd. DM Gelder der deutschen Wirtschaft sind nicht gesichert. Die deutschen Unternehmen spielen bis zum heutigen Tag zynisch auf Zeit. Erst für drei Fünftel des offiziell erwarteten Betrags liegen Zusagen vor. Für die ausstehende Summe gibt es nicht einmal die - von der Bundesregierung bis vor kurzem als unabdingbar bezeichnete - Verpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft. Am Ende kann es also durchaus sein, daß der Steuerzahler zusätzlich zu den 7,5 Mrd. DM "nachschießen" muss.
(5) Wir enthalten uns der Stimme, weil selbst mit diesem Gesetz die Unternehmen, die von NS-Zwangsarbeit profitierten, nicht zur Öffnung ihrer Archive, die diese Zwangsarbeit dokumentieren, gezwungen werden, und weil ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter Unternehmen, bei denen sie Zwangsarbeit leisteten, nicht juristisch eindeutig verpflichten können, die Archive zu öffnen, um ihre Ansprüche belegen zu können.
Das gibt den deutschen Unternehmen ein weiteres Mal die Möglichkeit für ein zynisches Spiel auf Zeit - eben das, was sie einigermaßen erfolgreich nun seit mehr als 55 Jahren beim Thema Zwangsarbeit betrieben haben.
Unsere Solidarität gehört den Opfern des NS-Regimes.
Mit unserer Enthaltung stellen wir uns nicht in den Weg, dass möglichst
viele von ihnen endlich eine Entschädigung erhalten. Mit dieser Erklärung
betonen wir jedoch unsere Kritik an dem - trotz alledem historischen - Gesetzentwurf.