Kultur

Die Internet-Anthologie "NULL" als Buch

Vom Buch ins Netz und zurück

An dieser Frage scheiden sich die Geister: Ist es Netz-Literatur oder Literatur im Netz? Und vor welche der beiden wäre ein relativierendes "bloß" zu setzen - als Scheideglied zwischen Kunst und Spielerei? Während das an die Krümmung des Buchrückens gewöhnte Feuilleton mutmaßt, dass die zappelige Unrast des Mediums die kontemplative Versenkung unmöglich macht (etwa Iris Radischs Glosse vom "www.Gesamtautor.de"), ist den passionierten Netzschreibern manches viel zu hausbacken "büchern", bloße Portation in die flirrenden Fonts der Bildschirme, blind für die neuen Möglichkeiten. Richtig zufrieden ist mit der vernetzten Literatur also niemand.

So verwundert es nicht, dass auch Thomas Hettche, gemeinsam mit Jana Hensel Herausgeber der Anthologie "NULL", in deren manifesthaftem Vorwort die Claims absteckt. Ein schwieriges Unterfangen, zumal es gilt, nach der Scylla obiger Probleme einer weiteren Charybdis auszuweichen: NULL wurde als reines Netz-Projekt geboren, ein kollektives "Tagebuch" von 26 Autoren der jüngeren und jüngsten Generation, das mit dem 1. Januar 1999 startete, um am letzten Tag vor der großen Nullung wieder zu verstummen. Unter www.dumontverlag.de/null ist es indes immer noch im Netz zu finden. Und nun kommt das Ganze als Buch heraus. Web-Puristen rümpfen die Nase. Will DuMont es Suhrkamp gleichtun, der mit Rainald Goetz' Digiarium "Abfall für alle" erfolgreich zeigte, dass die "Zweitverwertung" eines Netz-Produkts auch als "Roman eines Jahres" funktioniert?

DuMont umschifft solche Untiefen mit einem genialen Coup. Die "Hardcopy" der virtuellen NULL ist haptisch als Buch erfahrbar. Bevor man auch nur eine Zeile lesen kann, muss man 26 unaufgeschnittenen, nur in einem "Folder" gebundenen Druckbögen mit dem Messer zu Leibe rücken. Das Mühelose, oft auch Fahrige des Mausklicks in der virtuellen Welt wird zurückgeworfen auf den ganz materiellen Umgang mit Gedrucktem. Eine elementare Erfahrung für alle, die Buchstaben nur noch als Ballett auf der Guckkastenbühne namens "Windows" kennen.

So viel - um es mit Thomas Mann zu sagen - zum "Buchenswerten". Ansonsten ist das Konvolut ein exaktes Abbild der Netz-NULL, abgesehen von den Hyperlinks, die auf Papier wieder die alte Form der Fußnote annehmen. Was man liest, im Browser wie im Buch, scheint von der Fehde im Feuilleton weitgehend unberührt. Genuin literarisch sind die 26 Stimmen fast überall. Lediglich Themen wie der Kosovo-Krieg zeugen vom aktuell bewegten Griff in die Tasten, wofür man in den trägen Zyklen der Büchermärkte womöglich nicht den Bleistift gespitzt hätte.

Dass etwa Johannes Jansen darauf bestand, im Netz dürfe man von ihm nicht nur pixelige Zeichen lesen, sondern es müsse schon seine Handschrift sein, beweist, dass der Weg vom Buch ins Netz und zurück durchaus auch reflexiv-ironisch begangen werden kann. NULL ist somit auch auf dem geduldigen Papier ein lesenswertes Experiment, das der Debatte um die Ästhetik im Digitalen Wesentliches hinzufügt.

(jm)

NULL, herausgegeben von Thomas Hettche und Jana Hensel, DuMont Buchverlag, 406 S., 49 DM