KERNspalte

Wer glaubt, nach GAU (Harrisburg) und SuperGAU (Tschernobyl), den U-Boot-Friedhöfen bei Nowaja Semlja, den Nuclearpipelines von La Hague und Sellafield, dem Plutoniumkomplex Hanford schon alle großen radioaktiven Verseuchungen der Welt zu kennen, muss jetzt enttäuscht werden. Eine US-Umweltschutzgruppe fand in Zusammenarbeit mit russischen Umweltschützern in den sibirischen Flüssen Tom und Romashka, 2.900 km östlich von Moskau, eine radioaktive Verseuchung "wie von 10.000 kommerziellen Reaktoren", die alles genannte in den Schatten stellt. Als Quelle der Verseuchung vermuten die Wissenschaftler einen geheimen militärischen Reaktor oder einen Beschleuniger auf dem Gelände des Atomkomplexes Tomsk-7 (Sewersk), wo zu Sowjetzeiten 5 Reaktoren betrieben wurden, von denen noch 2 in Betrieb sind. Die Strontium-90-Konzentrationen in Futterpflanzen auf Kuhwiesen entlang der Flüsse überschreiten den in den USA zulässigen Grenzwert um mehr als das 1.000-fache, ähnlich verhält es sich mit Phosphor-32. Gefährlich radioaktiv verseuchte Fische werden hier gefangen und gegessen. Wenn das in Russland ziemlich "normal" ist, fragt man sich, was das Atomenergieministerium damit meint, auf Nowaja Semlja seien nach einer Reihe subkritischer Atomwaffentests bis in die letzte Woche alle Strahlungswerte in der Region "normal". Subkritische Tests fallen nicht unter das Verbot aller Atomwaffenversuche, das Russland im Mai unterzeichnet hatte. Das ist auch normal.

Nicht nur in Europa wird über das Ende der Atomkraft geredet. In Taiwan hängt davon sogar die Zukunft der Regierung ab. Nachdem Premierminister Tang Fei (Kuominhtang), letzter Befürworter eines 4. AKW-Neubaus in der Regierung, am 5.10. zurückgetreten ist, siehen sich die Minderheitsregierung von Staatspräsident Chen Shui-bian und seine Demokratische Fortschrittspartei in einer prekären Lage: Sie haben beschlossen, den Weiterbau des Reaktors einzustellen und die übrigen 3 AKW auslaufen zu lassen. So weise diese Entscheidung "zum Nutzen Taiwans zukünftiger Generationen und des einzigen Planeten, den die Menschheit besitzt" (O-Ton Neu-Premier Chang Chun-hsiung) auf einer extrem erdbebengefährdeten Insel ist, so einsam - trotz der vorausgegangenen militanten Proteste gegen den Meiler - ist sie auch. Die nun in der Mehrheit befindliche Opposition hat sich zu einer schlagkräftigen Allianz zusammengefunden, die die Baustopp-Pläne und damit wohl auch die Regierung zum Kippen bringen will. Rund 2 Mrd. US-$ wurden bereits in den Bau investiert - offenbar ein guter Grund, darüber hinweg zu sehen, dass Taiwan nicht einmal über Rudimente eines Atommüll-Entsorgungskonzeptes verfügt.

Peinlich, lächerlich, gefährlich: das frisch hochgefahrene tschechische AKW Temelin. Keine Woche vergeht, in der nicht weitere Störfälle während des Probe- und auch des gedrosselten Produktionsbetriebes gemeldet werden müssen. Nun sind die Haupt-Zirkulationspumpen ausgefallen, der Block musste heruntergefahren werden - und am nächsten Tag gleich wieder hoch, nachdem eine amerikanische Firma die Pumpen repariert hatte. Die Betreiberfirma spricht von einem "Kategorie Null-Vorfall" (niedrigste Alarmstufe), österreichische Experten dagegen meinen, bei Ausfall der Hauptzirkulationspumpen drohe die Kernschmelze. Natürlich findet auch Umweltminister Trittin den Betrieb von Temelin "bedauerlich", der EU-Beitritt Tschechiens dürfe aber mit diesem Thema nicht verknüpft werden, wie es etwa die Österreicher versuchten. Ob das die tschechische Atombehörde am 31.10. ermutigt hat, die Genehmigung für eine Kapazitätserhöhung des Reaktors sowjetischer Bauart mit US-Sicherheitseinrichtungen zu geben? Als offizieller Grund wurde angegeben (nicht lachen!), alle bisherigen Tests seien "erfolgreich verlaufen". Tausende Österreicher haben am vergangenen Sonntag und Montag aus Protest sämtliche 15 Grenzübergänge nach Tschechien blockiert. Tschechien droht nun Österreich mit Schadenersatzklagen für die Grenzblockaden. Von den deutsch-tschechischen Grenzübergängen gibt es keine vergleichbaren Meldungen, trotz des Globalisierungsgipfels in Prag.

Hans-Dieter Harig, E.ON-Vorstandschef, wandte sich gegen eine Selbstverpflichtung der Industrie, keinen "schmutzigen" Strom als Ersatz für stillgelegte Kraftwerke in Deutschland zu importieren. Es sei doch nicht sein Bier, wie bei den Vertragspartnern "die Stromquellen zusammengesetzt" seien. Womit er nichts anderes meinte als Temelin. E.ON, das ist neben Bayernwerk und VEBA auch PreussenElektra und Schleswag. Wer nicht in Kiel wohnt, hat genug Alternativen: NordStrom, Naturstrom AG, Greenpeace Energy etc. So schwer ist so eine Kündigung nicht!

Auch Bulgarien hat so einen Reaktor, der seinen wöchentlichen Störfall braucht, um normal zu funktionieren: Koslodui. Am 1.11. trat aus einem Leck Dampf aus. Der Block wurde runtergefahren und am 4.11. wieder hoch. Mal sehen, ob es in zwei Wochen schon einen GAU zu melden gibt.

In Philippsburg hat am 2.11. die Anhörung zum geplanten Übergangslager für abgebrannte Brennelemente am dortigen AKW begonnen. Wie das Bundesamt für Strahlenschutz mitteilte, gab es gegen die Pläne des Betreibers der Anlage 5.000 Einwendungen. EnBW will in bis zu 24 Transport- und Lagerbehältern der Bauart Castor V/19 sowie V/52 mit mobilen Umhausungen aus Stahlbetonfertigteilen die verbrauchten Brennstäbe lagern. Die beantragte Nutzungsdauer betrage acht Jahre.

Biblis A hat Risse! Die hat die Reaktorsicherheitskommission zwischen Haupt- und Notkühlsystem gefunden. Nun sollen die Untersuchungen laut Umweltministerium auf alle deutschen AKWs ausgeweitet werden, denn - die Risse waren "herstellungsbedingt" und blieben jahrzehntelang unbemerkt. Biblis A ist seit dem 19.8. wegen der Generalüberholung vom Netz. Der hessische Umweltminister Dietzel (CDU) versuchte noch 11 Tage lang, den Skandal zu vertuschen, dann kam doch alles raus und er räumte Fehler in der Informationspolitik ein. Bereits 1992 hatte ein Ultraschallmessgerät an der gleichen Stelle Schäden angezeigt. Damals wurden diese als "Messfehler" interpretiert. Sogar FDP-Abgeordnete sprechen von einem "sehr ernsten Fall".

Juristisch weht den EVUs nun nicht gerade ein scharfer Wind entgegen, aber doch ein laues Lüftchen: Sie müssen wohl weiterhin den Strom alternativer Erzeuger (z.B. Windkraftanlagen) gegen die Einspeisevergütung abnehmen, auch wenn sie es nicht wollen. Das geht aus einer Stellungnahme des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof hervor, dessen Auffassung bisher in vergleichbaren Verfahren später vom Gericht bestätigt wurde. Und das Bundesverwaltungsgericht in Berlin gab im Verfahren um eine mögliche Stilllegung des AKW Obrigheim in Baden-Württemberg den klagenden Kernkraftgegnern teilweise Recht - eine rechtmäßige Erlaubnis für den Betrieb des Atommeilers liege nicht vor, da nicht alle Teile der Anlage genehmigt worden seien, erklärte der 11. Senat. Eine sofortige Stilllegung wurde aber nicht verfügt, sondern das Verfahren nur an den zuständigen Verwaltungsgerichtshof in Mannheim zurücküberwiesen.

Und zum Schluss die Jeetzel-Brücke: Die gibt es nicht mehr. Die Schergen des Atomstaates haben sie abgerissen, nachdem sie aus dem Denkmalschutz holterdipolter entlassen worden war. Auf Kosten der radioaktiven Bahntochter GNS soll sie wiederaufgebaut werden, damit im Frühjahr 2001 schon die ersten Glaskokillenzüge von La Hague darüber rollen können, das ist Vorbedingung für eine Annahme der Castorbehälter aus Philippsburg, Stade und Biblis durch die Franzosen. Der stillgelegte Streckenabschnitt ist "gefährdetes Gebiet", Polizei und BGS nehmen von jedem Spaziergänger dort die Personalien auf und observieren rund um die Uhr. Um nun den Baubeginn zu verzögern und die Betreiber in Zeitnot zu bringen, ruft die BI Lüchow-Dannenberg auf zur Kundgebung am 3.12., 14 Uhr in Pisselberg (Dannenberg) und anschließendem Aktionstag. Der strategische Wert dieser Aktion ist durchaus so hoch anzusehen, dass auch eine Anreise aus dem Holsteinischen lohnt. (BG)

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