Herr, send' Hirn!

Dass Jugendkultur irgendwas mit Auflehnung zu tun hat, das war gestern. Nein, vorgestern. Heutige Teenies himmeln geclonte Kunststoffe wie die Boygroup N'Sync an. Die scheint sich indes ihrer Verantwortung für Solidarität bewusst und fordert ihre Fans auf, zu den Konzerten Kuscheltiere mitzubringen. Das tun die Fans zwar sowieso, aber die hübschen Boys wollen die Teddies jetzt für einen guten Zweck einsammeln. Nämlich für obdachlose Kinder. Ob die nicht anderes eher brauchen als N'Sync und ihren Plüsch, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest.

Sie können auch anders, die medial gezüchteten Produkte. BigBrotherBadBoy Christian (Selbstbezeichnung: "Der Nominator") schlägt sozusagen die Antithese zu N'Sync vor. "Es ist geil, ein Arschloch zu sein" heißt seine Single, die von Null auf Eins irgendwelcher Mediaverkaufscharts hüpfte. Ein schwindelerregender Höhenflug mit einem Satz, der wahrscheinlich manchen Manager aus dem BurnOut rettet und der wahlweise auch andere Arschlöcher dazu ermuntern wird, dieses Loch in ihnen noch etwas auszuweiten.

Die anderen Sätze, die den Kids die Freude am kapitalen Wahn nicht nehmen sollen, sondern sie ermutigen zu dem, was ihre Eltern, nach 68 fettärschig, Außenminister oder beides geworden, längst schon anrichten: Ad 1: "Schluss mit Pickeln!" Ad 2: "Verlieren ist out, Gewinnen ist in." Ja, so ist es. Mit eitrigen Pickeln des Textes, der noch immer irgendwie "aufklären" will, ist man einfach auf der Verliererstraße. Denn der Aufklärer von heute heißt weder Kant, noch Marx, noch LinX, sondern "Clearasil".

Clearasil, die ultimative Waffe gegen den Frust mit der Hautunreinheit, täte allerdings vielleicht noch anderswo gute Dienste. Nämlich da, wo es um Haut und Kontakt geht, in der Politik. Politik, auch die linke, beschäftigt sich aber irgendwie nicht mit Haut und schon gar nicht mit Gefühl. Da gibt's z.B. diese Ausgabe der "ARRANCA!" vom Frühjahr 1996. Ihr Schwerpunkt hieß "SEXualmoralischer Verdrängungszusammenhang". Ein Heft prall voll mit interessanten Texten. Leider hatte man - ganz sicher war der Layouter ein Mann gewesen - das mit Bildern aus dem "Heimlichen Auge" illustriert. Sprich: Mensch sieht Menschen beim Ficken und noch vielem mehr. Das Ergebnis solchen Unflats war damals gewesen: Exkommunizierung. Zahllose frauenbewegte Infoläden stellten ihr Abo ein und entfernten die "ARRANCA!" nachhaltig aus ihren Regalen. Hatten sie vorher eigentlich die Texte gelesen? Ach ja, das hatten wir ja oben schon erkannt: Text kommt nicht gut.

Mit Recht. Denn bei Politik sollte es doch immer um echte, statt verschlüsselte Bedürfnisse gehen. Doch was sind die Bedürfnisse? Neben dem Bedürfnis, in nicht-entfremdeten und nicht-ausbeuterischen Verhältnissen zu leben, sind auch Berührung und Antastbarkeit welche, und die kommen davor. Das Angetastetsein des Mainstreams von N'Sync-Kuscheltieren, von "My heart beats like a drum (dam dam dam)" und Ähnlichem muss mensch also nicht notwendig so old-school-mäßig kulturpessimistisch sehen, wie oben geschehen. Gibt es vielleicht einen Verdrängungszusammenhang der Linken, der heißt: Politik geht vor Psyche?

Es gibt. Und also bleibt solche Politik, die sich um die (berechtigten) Bedürfnisse anderer kümmert, indem sie die von Nizza bis Göteborg zu ihren eigenen macht, sehr rational, sehr dialektisch, sehr taktisch klug soziale Bewegungen anheizend, eigentlich bewegungs- und gefühllos. Bei aller Hochachtung für solches Engagement - das Verharren in den alten Kategorien sozialer Kämpfe scheint eines Revisionismus bedürftig. Der heißt ganz platt: Über Gefühl reden mitten auf der Barrikade. Und also neue Politik. Und die guckt BRAVO-TV, nimmt auch gestylte Britney-Clone ernst, sobald sie was singen über das Gefühl der Massen. Die könnten uns Linke mal da abholen, wo wir gerade stehen. Daraus entstünde sicher etwas wie Revolution; Auflehnung von gestern für heute. Nur sähe die ganz anders aus als von Marx erdacht. Denn sie hätte was mit ganz realen Wünschen statt nur mit abstrakten Klassenkämpfen zu tun. (jm)

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