Internationales

"Zur falschen Zeit am falschen Ort"

Alltag in Istanbul

In der Türkei gehen auch nach den brutalen Erstürmungen vieler Gefängnisse durch Polizei und Militär die Hungerstreiks eines Teils der politischen Gefangenen weiter. Mehrere Dutzend Menschen waren bei dem Versuch der Regierung, kurz vor Weihnachten den Konflikt mit Gewalt zu beenden, getötet worden. Die Gefangenen wehren sich gegen die Verlegung in neue so genannte Typ-F-Gefängnisse, in denen sie in Kleinzellen besser kontrolliert und zumindest zum Teil auch in Isolationshaft genommen werden können. Sie befürchten, dort der Willkür der Wärter, und damit Folter und der Gefahr politischer Morde, weitaus mehr ausgeliefert zu sein.

Während in Berlin die rosa-grüne Bundesregierung weiter zur mörderischen Politik ihres engen Verbündeten schweigt, haben Weltbank und IWF die Politik extremer Unterdrückung, die mit einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise zusammenfällt, mit neuen Krediten belohnt. Exakt zeitgleich mit der Erstürmung der Gefängnisse bewilligten die beiden von den EU-Staaten, Japan und den USA kontrollierten Finanz-Institute Kredite in verschiedenen Hilfspaketen in Höhe von insgesamt rund 13 Mrd. US$ (ca. 28 Mrd. DM).

Die Gewalt beschränkt sich nicht auf die Gefängnisse. Inwieweit die Einführung von Isolationsknästen und der Widerstand den Alltag und die türkische Innenpolitik bestimmt, ist hierzulande jedoch selbst für politisch interessierte Menschen schwer einzuschätzen.

LinX unterhielt sich mit E.Ö., einem Schleswig-Holsteiner kurdischer Herkunft, über seine Erfahrungen, die er während eines 3monatigen Aufenthalts in Istanbul (September - Dezember 2000) gemacht hat. Das Gespräch führte cs. (wop)

LinX: E., seit dem 20. Oktober befinden sich in mehreren Gefängnissen der Türkei politische Gefangene in einem Hungerstreik, der die Rücknahme der Einführung der sog. "F-Typ"-Gefängnisse erreichen soll. Du hast während der Zeit, in der der Widerstand der politischen Gefangenen begann, aber auch während der Phase der Eskalation, mehrere Monate in Istanbul gelebt und gearbeitet. Wie hast du diese Situation in deinem Alltag erlebt?

E.Ö.: Im Viertel, in dem ich gelebt habe - ein armer, aber relativ erdbebensicherer Stadtteil Istanbuls, leben viele Mitglieder der türkischen Kommunistischen Partei (DHKP-C) und deren Angehörige. Viele Aktionen der Partei werden in diesem Viertel organisiert. Während meines Aufenthalts patrouillierten jeden Tag zu jeder Tageszeit mehrere Polizeiwagen, aber auch Panzerwagen, durch das Viertel.

LinX: Liegen denn die Istanbuler Gefängnisse, in denen das Todesfasten, wie in zahlreichen anderen türkischen Städten durchgeführt wurde, in unmittelbarer Nähe dieses Stadtteils?

E.Ö.: Also - es gibt in Istanbul zwei große Gefängnisse, in denen fast ausschließlich politische Gefangene sitzen, Bayrampa und Ümraniye. Diese liegen jedoch etwa 15-20 km vom Stadtteil entfernt.

LinX: Polizei und Militär gehen also davon aus, dass die Organisierung des Hungerstreiks und der Solidaritätsaktion auch von diesem Viertel ausgeht?

E.Ö.: Ja, aber der Hauptgrund für die massive Polizeipräsenz sind wohl die dort lebenden Angehörigen der Gefangenen und aber auch der hohe Anteil von Kurden und türkischen Aleviten. Dem Staat gilt dieser Teil Istanbuls als potentielle Hochburg des Widerstandes, von der jederzeit ein Aufstand losgehen kann. Polizeipräsenz ist überall in Istanbul "normal". Hier allerdings besonders stark.

LinX: E., Du warst ja nun nicht als politischer Aktivist in Istanbul, sondern als Passant, sozusagen, der nur seiner Arbeit nachgehen wollte. Bist du denn aber von den Kontrollen betroffen gewesen.?

E.Ö.: Nicht ständig, aber als es zu Demonstrationen kam, wurde jeder gejagt und kontrolliert. Ohne Pass aufgegriffen zu werden, bedeutete mehrere Tage Untersuchungshaft. Das konnte einem allerdings auch mit Pass passieren. Natürlich ohne jegliche rechtliche Grundlage. Man war dann einfach zur falschen Zeit, am falschen Ort. Meine Verwandten und ich gingen daher während dieser Demonstrationen auch nicht auf die Straße. Außerdem hätte mir mein kurdischer Name im Falle einer Passkontrolle, wahrscheinlich dauernde Kontrollen und anderen Ärger beschert. An einem Tag hatte ich allerdings nicht mitbekommen, dass in einem der Gefängnisse die Situation mal wieder eskalierte und es zu einer verbotenen Demonstration der Kommunistischen Partei kam. Beim Brotkaufen, merkte ich, dass die Polizei auf mich aufmerksam wurde. Da sie allerdings mit anderen "Verdächtigen" gerade in einem Handgemenge war, konnte ich zu einem Cousin flüchten und mit dessen Wagen erstmal in einen ruhigere Straße fahren.

LinX: In diesem Zusammenhang würde uns interessieren ,ob es anlässlich der Einführung der Isolationsgefängnisse eine Zusammenarbeit zwischen türkischen und kurdischen Linken gab?

E.Ö.: Nein. Nach meinem Eindruck waren alle Aktionen nur von türkischen und alevitischen Linken organisiert. Kurdische Organisationen haben sich seit der Inhaftierung Abdullah Öcalans zu einem moderateren Kurs gegenüber dem türkischen Staat entschieden.

LinX: Heißt das, dass der türkische Staat zur Zeit in den türkischen Linken seinen Hauptgegner sieht?

E.Ö.: Ja. Nach einem von der Regierung entwickelten Szenario sollten zuerst die Kurden und dann die Islamisten erledigt werden. Nun sind die türkischen Linken an der Reihe. Ob danach die Faschisten bekämpft werden, scheint mir eher fraglich. Wenn es überhaupt dazu kommten sollte, dann frühestens unmittelbar vor dem EU-Beitritt.

LinX: E., Du bist ja nun seit ein paar Wochen schon wieder in Deutschland. Meinst du, dass die Medien ein realistisches Bild der innenpolitischen Situation der Türkei vermitteln? Derart "bürgerkriegsmäßig", wie du es eben geschildert hast, hätte ich mir die Situation nicht vorgestellt.

E.Ö.: Na, ja - also es wird schon relativ wenig berichtet. Aber ich würde auch nicht von einer bürgerkriegsartigen Situation sprechen. Die gab es vor 10 Jahren, als auch die PKK noch stärker war. Zur Zeit hat der Staat die Lage recht "gut" im Griff. Militär und Kontrollen bestimmen schon immer den Alltag in der Türkei.

LinX: Wie bewertest Du das Todesfasten?

E.Ö.: Ich denke, dass die Aktion nicht viel gebracht hat, außer Opfern. Dass der türkische Staat etwas an seinem Gefängnisssystem, in dem bisher nichts ohne die politischen Organisationen lief, ändern würde, war absehbar. Dass die Verhandlungen Ende Dezember mit der Regierung - diese kündigte ein Aussetzten der Verbringung in die F-Typ-Knäste an - eine Farce sein würden, war klar. Anderseits wurde natürlich so die Weltöffentlichkeit auf die Zustände in der Türkei aufmerksam gemacht.

LinX: Dies müsste doch aber dem Wunsch der türkischen Regierung nach EU-Beitritt eher abträglich sein?

E.Ö.: Ja, aber die Regierung wollte durch diese Demonstration von law and order ihre Popularität in erster Linie bei der Bevölkerung vergrößern, also ihre Stärke zeigen. Dies muss vor dem Hintergrund der immer wahrscheinlicher werdenden Neuwahlen gesehen werden.

LinX.: E., wir danken Dir für das Gespräch.

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