Grüße vom Kuckuck

Verehrter Herr Ullmann,

was bin ich froh, nur ein Kuckuck zu sein, dem die drängendste Frage dieser Zeit nicht gestellt wird. Bei einem deutschen Kuckuck würden wohl zu viele an einen Gerichtsvollzieher erinnert. Darf ich dagegen Sie etwas fragen? Was haben die Kunst und die Börse gemeinsam? In ihrer reinsten Form sind beide frei von jeder Moral. Das konnten Sie nicht wissen. Denn Sie sind ein Hüter derselben, ein ehrenwerter Mann, voller Sorge um das Ansehen nicht nur eines ins Gerede geratenen Gewerbes, sondern eines ganzen, nämlich des deutschen Volkes.

Deshalb haben Sie sich auch am 11. März diesen Jürgen Trittin ordentlich vorgenommen, diesen Kerl, der sich feixend und öffentlich amüsierend "auf ein abstoßendes politisches Niveau begeben" habe, der deshalb "moralisch angreifbar" sei und "nicht nur seine Person in Misskredit bringt, sondern seinem ganzen Berufsstand schadet". Peng! Das hat, wie es beim Boxen heißt, gesessen. Am 20. März fehlte Ihnen dieser zupackende Schnapp. Sie litten spürbar unter dem Ergebnis Ihrer kühnen Recherche, dass einige Deutsche, wie z. B. die Herren Schröder und Rau, nicht so richtig stolz auf ihr Land sein wollen und "die schwarzrotgoldene Fahne (...) in keinem Vorgarten auf dem Mast zu sehen" sei. Der Grund dafür sei, lassen Sie, erschöpft vom langen Nachdenken, Ihre Leserinnen und Leser wissen, dass zu viele sich ihres Deutschseins schämen würden und deshalb nicht stolz auf ihr Land sein könnten. Ein Gedanke von bemerkenswerter Einsicht.

Dem Mangel an Fahnen in deutschen Vorgärten zumindest, verehrter Herr Ullmann, können Sie doch schnell abhelfen. Oder haben Sie keinen Vorgarten? Ansonsten sind Sie wirklich ein hoffnungsloser Fall. Und weil meine Geduld mit Ihnen nicht grenzenlos ist, verspreche ich Ihnen, Sie zukünftig zu ignorieren. Denn Moral, verehrter Herr Ullmann, verschafft zwar ein ruhiges Gewissen, versaut aber, wie man bei Ihnen sieht, das Denken, besonders das logische, vom dialektischen mag ich in Verbindung mit Ihnen gar nicht sprechen.

Es bedurfte nun wirklich nicht eines Jürgen Trittins, damit nicht nur das Ansehen dieser Kaste, sondern auch die Wahlbeteiligung auf einen historischen Tiefststand fällt. Feixende Abgeordnete bestimmen nämlich jede Parlamentsdebatte, und niemand scheint sich zu schade zu sein, öffentlich herumzukaspern. Und wenn sie nicht gerade mit großer krimineller Energie und aus Sorge um Deutschland die Parteikassen füllen, vermitteln sie den Eindruck einer Horde pupertierender Männer, die schnell mal, gepeinigt von moralischen Skrupeln, das eine oder andere Auschwitz verhindern oder, erfüllt von wahrer Liebe, ihre dritte oder vierte Frau heiraten. Demgegenüber ist Herr Trittin ein höchst integrer Mann, dem man nicht mal nachsagen kann, dass er von der Atomindustrie bestochen worden ist.

Daraus ergibt sich folgerichtig, Sie lesen richtig, Herr Ullmann, folgerichtig, dass es keiner Scham, vielmehr eines wachen Verstandes bedarf, um das nicht zu sein, was möglicherweise schon in naher Zukunft, ginge es nach den Herren und Damen mit Gesinnung, von jeder Lehrerin und jedem Lehrer (als Ersatz für die FDGO) als Bekenntnis abverlangt wird. Dann hat Ihre große Stunde geschlagen. Seien Sie mutig und marschieren Sie entschlossen voran. Nach der Beflaggung der Vorgärten kommen dann noch die Fenster an die Reihe, natürlich nur die deutschen.

Heute also zum letzten Mal an Sie mein Gruß,

Ihr Kuckuck

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