Globalisierung

Aufbruchstimmung

Überwältigendes Interesse am ersten Kongress von ATTAC Deutschland

"Sie können alle Blumen ausreißen, aber niemals werden sie den Frühling beherrschen". Besser hatte die Aufbruchstimmung nicht ausgedrückt werden können, die am Wochenende in Berlins Technischer Universität in der Luft lag. Insgesamt 4.000 waren gekommen, um am ersten Kongress des deutschen Ablegers des internationalen ATTAC-Netzwerkes teilzunehmen und zwei Tage lang in überfüllten Hörsälen in Dutzenden Arbeitsgruppen zu diskutieren.

"Es ist eine Weltordnung entstanden, die den Interessen der großen Mehrheit der Bevölkerung diametral entgegengesetzt ist", brachte der Schweizer Sozialist, Soziologe und UN-Sonderberichterstatter Jean Ziegler den Konsens der Teilnehmer auf einen Nenner. Ziegler hatte auch die eingangs erwähnten Zeilen aus Pablo Nerudas "Canto General" zitiert und dafür frenetischen Beifall geerntet.

Der dritte Weltkrieg gegen die Menschen in den Entwicklungsländern sei angesichts von Zig-millionen Hungertoten Jahr für Jahr längst im vollen Gange, beschrieb Ziegler in seiner Eröffnungsrede am Freitag einen wesentlichen Teil des Unbehagens, der die sehr gemischte Zuhörerschaft umtrieb. ATTAC-Mitglied und Sozialrichter Jürgen Borchert ergänzte ebenfalls im Plenum am Freitag: "Wer Freiheit ohne Gleichheit fordert, der will einen neuen Feudalismus". Bundeskanzler Schröder habe sich vom Gleichheitsprinzip verabschiedet, was besonders in der Teilprivatisierung der Rentenversicherung offensichtlich werde. Die führe den großen Konzernen und Versicherungen direkt und indirekt enorme zusätzliche Finanzmittel zu und überlasse die Altersversorgung der Laune der Aktienmärkte. Den nächsten Schritt in dieser Entwicklung bilde die angekündigte Privatisierung der Krankenversicherung; entsprechend beschäftigte sich eine Arbeitsgruppe am Samstag, in der auch viele Gewerkschafter saßen, mit konkreten Planungen für eine Kampagne zur Verteidigung der Gesundheitsversorgung.

Allgemeiner ging es am Samstag nachmittag in einer gut besuchten Arbeitsgruppe zu, in der die Kritiker von ATTAC zu Wort kamen. Markus Wissen vom Bundeskongress Entwicklungspolitischer Initiativen (BUKO) diskutierte mit Peter Wahl vom ATTAC-Koordinierungsausschuss über die Perspektiven des neuen Netzwerkes. Man dürfe nicht nur an den Staat appellieren, so Wissen, der meinte, bei ATTAC Staatsfixiertheit entdeckt zu haben und sich Sorge macht, dieser Teil der Bewegung könnte SPD und Grünen in die Anpassung folgen, und zwar um so mehr, als die Kapitalismuskritik von ATTACverkürzt sei. Wahl hielt dem entgegen, dass es natürlich wichtig sei, die bestehenden Verhältnisse so tief wie möglich zu analysieren, dass aber Forderungen aufgestellt werden müssten, die in der jeweiligen historischen Situation auch realisierbar sind. Insgesamt erinnerte die Debatte in dieser AG an das, was die Vize-Präsidentin von ATTAC Frankreich Susan George am Sonntag in ihrer Abschlussrede einen "circular firing squad" nannte. Die Linke habe eine gewisse Tradition, sich im Kreis aufzustellen und auf den jeweiligen Nebenmann zu zielen. Statt dessen, so ihr Appell, solle man sich doch lieber mal dem gemeinsamen Gegner widmen.

Die Debatte um Staatsnähe und -ferne spielte auch in einer Podiumsdiskussion am Sonntag vormittag eine wesentliche Rolle. Eingeladen waren Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie, Ingeborg Wick von der Entwicklungsorganisation Südwind und der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine. Wick wies darauf hin, dass der moderne Nationalstaat wie die kapitalistische Wirtschaftsform auf dem Patriarchat begründet wurde und diesen Geburtsfehler bisher nicht losgeworden sei. Das drücke sich in den internationalen Verhältnissen heute unter anderem darin aus, dass die Opfer der Armut und auch der Wirtschaftskrisen vor allem Frauen seien, die nach UNO-Zahlen sowohl zwei Drittel der Armen wie auch der Analphabeten stellten.

Oskar Lafontaine konzentrierte sich darauf, die Dominanz der Märkte anzugreifen. "Es kann nicht sein, dass Finanzdienstleister den Regierungen und Parlamenten die Politik vorschreiben." Und: "Wir brauchen wieder stärkere Staaten." Das wollte Narr so nicht stehen lassen. Dezentralisierung und Demokratisierung seien unerlässlich, wenn man eine stärkere Regulierung der Wirtschaft fordere. Narr machte wie mancher Diskussionsteilnehmer in den AG deutlich, dass es um weit mehr als um die Verteidigung des Status quo geht. Gleichzeitig griff er, wie auch andere, die Pläne Schilys zur sogenannten Terrorismusbekämpfung als undemokratisch und gegen die sozialen Bewegungen gerichtet an.

Auch der aktuelle Krieg gegen Afghanistan und seine Ablehnung spielte in vielen Beiträgen und Arbeitsgruppen eine wichtige Rolle, so dass Freya Pausewang und Sven Giegold vom ATTAC-Büro zum Abschluss folgendes Resümee zogen: "Der Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung ist nicht verstummt. Heute wissen wir, dass alle, die sich Krieg und Terrorismus widersetzen wollen, von Verarmung und Demütigung durch die weltweiten wirtschaftlichen und militärischen Herrschaftsverhältnisse nicht schweigen können. Eine Antikriegsbewegung muss schon im Ansatz globalisierungskritisch sein, und unsere Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung ist daher auch eine Anti-Kriegs-Bewegung". (wop)

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