Globalisierung

Interview

"Es ist wichtig, dass ATTAC nicht stehenbleibt"

Am Wochenende hielt ATTAC Deutschland seinen ersten Kongress ab. Wir sprachen aus diesem Anlass mit Werner Rätz. Rätz ist langjähriger Mitarbeiter der Informationsstelle Lateinamerika (ila), war in den 80ern und danach in der Friedensbewegung aktiv, mischt ein wenig im Netzwerk der Gewerkschaftslinken mit und gehört zu denjenigen, die im Januar 2000 ATTAC Deutschland gründeten. (wop)

LinX: Die Kritiker ATTACs haben lange in der Mottenkiste politischer Begriffe gekramt und ganz unten einen dicken Knüppel gefunden: Reformismus. Ist ATTAC wirklich nichts anderes als die außerparlamentarische Fortsetzung der Sozialdemokratie? Und wenn ja: Was hat einer, der seit Ewigkeiten in der Lateinamerika-Solidarität arbeitet, in einem solchen Netzwerk verloren?

Werner Rätz (W.R.): Was heißt schon Reformismus? Wer in politische Abläufe eingreifen will, ist darauf angewiesen, Forderungen zu stellen. Das kann immer nur auf Reformforderungen hinauslaufen. Die Frage ist in der alltäglichen Praxis nicht, ob Forderungen, ob ein politisches Agieren für reformistische oder revolutionäre Ziele stehen. Das halte ich für eine vollkommen unrealistische Gegenüberstellung. Die Frage ist, in welche Richtung wir Politik verändern und gestalten können bzw. wollen. Ich halte es für wichtig, die politische Richtung der Veränderungen des Kapitalismus in den letzten 20 oder 25 Jahren umzukehren. Seit über 20 Jahren erleben wir weltweit den Abbau sozialer Rechte, einen Abbau von ganz praktischen, materiellen Lebensmöglichkeiten der Menschen. Dieses umzudrehen, d.h. deutlich zu machen, dass Politik wieder in Richtung gehen könnte, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, halten wir im Moment für eine ganz zentrale Aufgabe. Das ist selbstverständlich eine Form von Reformismus, was sonst. Aber die Alternative revolutionärer Veränderungen steht ohnehin nicht auf der Tagesordnung. Auch nicht bei denen, die sie verbal hochhalten. Der Knüppel Reformismus uns also einerseits, geht aber andererseits völlig an den praktisch politischen Möglichkeiten der aktuellen Situation vorbei.

LinX: Immerhin ist nun auch Oskar Lafontaine auf den Zug aufgesprungen und ATTAC beigetreten. Gibt das nicht den Kritikern recht und Ihnen zu denken? Um so mehr vielleicht, als dass Landesverbände der grünen Regierungspartei dem deutschen Ableger des Netzwerkes beigetreten sind, wie unlängst Alexander Schudy vom BUKO behauptete.

W.R.: Es ist wirklich spannend, zu sehen, wie sehr die Linke und gerade die radikale Linke dazu neigt, Gerüchte für wahr zu halten, die man gerne für wahr halten würde, auch wenn nix dran ist. Es gibt keine grünen Landesverbände in ATTAC. Es gibt in ATTAC eine klare Beschlusslage, dass auf Bundes- und Landesebene keine Parteiverbände in ATTAC aufgenommen werden. Für Ortsverbände sieht das anders aus. Aber keine Landes- und Bundesverbände, und es gibt dementsprechend auch keinen grünen Landesverband, der Mitglied bei ATTAC ist. Es gibt auch keinen, der einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hat. Das ist eine völlig frei erfundene Geschichte. Was Oskar Lafontaine angeht, ist es in der Tat so, dass ATTAC da einen Punkt hat, wo man aufpassen muss. Wer heute Politik in dem beschriebenen Sinne machen will, d.h. die Richtung der Politik umkehren will, der hat ein kleines Stück gemeinsamen Weges mit bestimmten traditionellen Sozialdemokraten. Und die Erfahrung, wo deren Politik, d.h. klassisch sozialdemokratische Politik hinführt, ist ja durchaus gemacht worden, nicht nur mit Oskar Lafontaine. Wir sind ja da, wo wir heute mit neoliberaler kapitalistischer Globalisierung sind, nicht zufällig angekommen. Und auch nicht nach einem harten Kampf zwischen "fortschrittlicher Sozialdemokratie" und irgendwelchen reaktionären Oberglobalisierern. Sondern da, wo kapitalistische Globalisierung heute steht, steht sie logischerweise aufgrund der jahrzehntelangen Politik von Sozialdemokraten und Nichtsozialdemokraten. Und auch heute sind Sozialdemokraten in der kapitalistischen Globalisierung ja durchaus führend beteiligt. Insofern muss man da sehr aufpassen, dass ATTAC nicht zu einem reinen Unterstützungsverein für Sozialdemokraten mit gestriger Couleur wird. Deren Politik hat ja eben die Probleme nicht vermieden, vor denen wir heute stehen und wird sie auch in Zukunft nicht vermeiden.

LinX: Was heißt das in der politischen Praxis? Wie kann man das Ersticken in der versuchten Umarmung verhindern?

W.R.: Es ist ganz wichtig, dass ATTAC nicht stehenbleibt bei diesem Umkehren von Politik. Das wäre nur ein erster - allerdings sehr wichtiger - Schritt. Wäre diese Umkehrung geleistet, würde heute in der Tat das, was ATTAC an tagespolitischen Forderungen hat, Schließung der Steueroasen, Tobin-Steuer, Erhaltung der solidarischen Sicherungssysteme in der Altersversorgung, in der Krankenkasse, wären all diese Forderungen erfüllt, müssten wir als Linke immer noch hingehen und diese Politik kritisieren. Eine staatliche Politik, die das umsetzte, was heute ATTAC-Forderung ist, bliebe weit hinter dem zurück, was man fordern muss, wenn man an dem ATTAC-Slogan, eine andere Welt ist möglich, festhalten will. Die konkreten Forderungen, mit denen ATTAC heute agiert, können im allerbesten Fall erste Schritte sein. Und die Aufgabe der Linken in ATTAC besteht auch jetzt darin, genau das deutlich zu machen. Diese ersten Schritte können wir mit einer Reihe von Leuten gemeinsam gehen. Ob wir mit denen den zweiten Schritt gemeinsam gehen könnten, wenn es so weit wäre, ist offen.

LinX: Was wäre - konkreter gesprochen - der zweite Schritt?

W.R.: Ein ganz wesentlicher Punkt wäre - damit muss man jetzt schon anfangen - eine deutliche Umverteilung von oben nach unten. Auch dieses wäre selbstverständlich noch eine reformistische Position. Besonders wichtig wäre auch, die politische Verhältnisse zwischen den Nationen derart zu verändern, dass wieder Spielräume für emanzipatorische Politik in Ländern der Dritten Welt entstehen. Wenn ich mir z.B. vorstelle, die Arbeiterpartei gewinnt in Brasilien nächstes Jahr die Wahlen, überkommt mich das Grauen, und zwar weil ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, was für eine fortschrittliche Politik die mit den minimalen Spielräumen, die es nur gibt, heute machen könnten. Sie bräuchten dringend Unterstützung durch Bewegungen im Norden, und wir bräuchten vor allen Dingen im Norden Bewegungen, die stark genug sind, Kämpfe zu entfalten, die ihre Regierungen hier beschäftigten und ihnen die Kraft nehmen, darauf zu beharren, die ganze Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Es wäre eine ganz entscheidende Aufgabe im zweiten, immer noch sehr, sehr kleinen reformistischen Schritt die internationalen Beziehungen so zu gestalten, dass ökonomische, politische Freiräume in der Tat für fortschrittliche Bewegungen und fortschrittliche Regierungen in der Dritten Welt entstehen.

LinX: Entgegen der in Deutschland und Frankreich weit verbreiteten Wahrnehmung wird die Globalisierung nicht allein von der US-Regierung und nordamerikanischen Multis vorangetrieben. Der Bundesverband der Deutschen Industrie verfolgt eine mindestens ebenso aggressive Politik und die Privatisierungs- und Liberalisierungsoffensive der EU innerhalb der WTO erfolgt - mal mehr, mal weniger offen ausgesprochen - in seinem Interesse und dem vergleichbarer französischer und anderer Verbände in der Union. Wird ATTAC dem gerecht?

W.R.: In Ansätzen, aber wirklich nur in Ansätzen. Ich stimme der Einschätzung völlig zu. Der EU-Außenhandelskommissar Pascal Lamy ist sicher weltweit der Oberliberalisierer, der eine viel wichtigere Rolle in der Durchsetzung neuer Liberalisierungsschritte spielt, als das die US-Regierung je getan hat. Lamy ist derjenige, der seit langem massiv daran arbeitet, eine neue Welthandelsrunde einzuleiten und der die GATS-Verhandlungen vorantreibt, d.h. die Gespräche über ein neues Dienstleistungsabkommen. Trotz aller Rhetorik hat er nie die Pläne aufgegeben, die hinter dem gescheiterten MAI, also dem Multilateralen Investitionsabkommen gestanden haben. Jetzt verfolgt er sie innerhalb der WTO. Es wäre dringend notwendig, dass internationale Akteure wie ATTAC das deutlicher in den Blick bekommen. Bei den Fachleuten und in den internen Papieren wird diese Rolle der EU bei ATTAC durchaus gesehen. In der praktischen Politik, in dem was von ATTAC öffentlich wahrgenommen wird, spielt das jedoch kaum eine Rolle. Im Zusammenhang mit der WTO-Konferenz nächsten Monat werden wir versuchen, das mehr ins Zentrum zu rücken. Es gibt eine Arbeitsgruppe bei ATTAC Deutschland, die an diesen Fragen arbeitet und auf dem Kongress am Wochenende wird hoffentlich ein Arbeitsbereich zu diesem Thema entstehen. Künftig muss gerade auch die Rolle der EU im Zusammenhang mit den GATS-Verhandlungen, bei denen es u.a. um weitgehende Privatiserung geht, ein größeres Gewicht in unserer praktischen politischen Arbeit auf der Straße bekommen. Der 10. November, der internationale Aktionstag gegen WTO, wird der erste Schritt sein. Ich hoffe, dass das ein entscheidender zweiter Schritt die Aktionen zum EU-Gipfel im Dezember in Brüssel sein werden.

LinX: Kommen wir noch mal zurück zu den Bewegungen im Norden: Parallel zu den beschriebenen Anstrengungen der europäischen Regierungen und der EU-Kommission in der WTO gibt es auch in den EU-Mitgliedsstaaten massive Angriffe auf die sozialen Sicherungssystem und die öffentlichen Versorgungsunternehmen, deren profitablen Bestandsteile man privatisieren möchte. Ist das ein Betätigungsfeld für ATTAC? Kann an diesen Fragen eine neue soziale Bewegung entstehen?

W.R.: Es gibt im europäischen ATTAC-Netwerk große Übereinstimmung über die Bedeutung der Frage der sozialen Sicherungssysteme. Auf der praktischen Ebene gibt es leider ein deutliches Defizit. In der BRD kommen die ATTAC-Mitglieder nur zu einem ganz kleinen Teil aus den klassischen Sozialbereichen oder aus dem traditionellen gewerkschaftlichen Organisierungsbereich, so dass soziale Fragen für viele unserer Aktivistinnen und Aktivsten zwar abstrakt eine Bedeutung haben, in ihrer politischen Praxis aber nachrangig sind. ATTAC Deutschland hat im vergangenen Jahr als erste praktische Kampagne an der Frage der Privatisierung der Rentenversicherungen gearbeitet. Derzeit entwickeln wir in Kooperation mit dem Netzwerk der Gewerkschaftslinken eine Kampagne zur drohenden Gesundheitsreform. Das ist aber eine mühsame Arbeit, an der verhältnismäßig wenig Leute beteiligt sind. Natürlich hoffe ich, dass an diesen Punkten eine neue soziale Bewegung entstehen kann. Aber ob das wirklich zustande kommt, ist so eindeutig noch nicht absehbar. Die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaftslinken ist für uns da ein wichtiges strategisches Moment. Aber bisher ist die Aufmerksamkeit für diese Fragen in ATTAC im Wesentlichen auf der politischen Ebene. Wir haben überall Zustimmung, wir rennen überall offene Türen ein, es gibt keinerlei Differenz darüber, dass man an diesen Themen arbeiten muss. Aber die praktische Mitarbeit in der bundesweiten Arbeitsgemeinschaft soziale Sicherungssysteme beschränkt sich bisher auf ein gutes Dutzend Leute.

LinX: Das hört sich nach einem Dilemma an, denn die angesprochenen starken Bewegungen, die im Norden notwendig wären, um emanzipatorischen Projekten im Süden den Rücken frei zu halten, werden sicherlich nur aus der eigenen Interessenslage entstehen können. Und in der Tat gäbe es dafür durchaus objektive Voraussetzungen, z.B. mit den Angriffen auf die Rente und das Gesundheitssystem. Das Problem scheint jedoch zu sein, dass viele derjenigen, die sich konkret gegen Globalisierung engagieren, diese persönlichen Interessen gar nicht sehen, geschweige denn, dass sie die Verbindung wahrnehmen würden.

W.R.: Das ist sicherlich auch bei manchem ATTAC-Aktivisten der Fall. Viele sind aus einer Motivation heraus aktiv, die die eigene Rolle erst mal eher ausspart. Genauso halte ich es für richtig, dass weltweite Solidarität oder Solidarität überhaupt letztlich nur zustande kommt auf der Basis gemeinsamer Interessen. Solidarität, die auf der moralisch integren und völlig berechtigten Entscheidung beruht, "ich möchte jetzt mit dir solidarisch sein", die ist gut, solange sie stattfindet. Sie ist aber immer in Gefahr, zusammenzubrechen, wenn sie unter Druck gerät. Von daher wird es im Laufe des weiteren politischen Prozesses notwendig sein, die gemeinsamen weltweiten Interessen derjenigen, die ATTAC üblicherweise als Globalisierungsverlierer bezeichnet, herauszuarbeiten. Diese Interessen sind vorhanden. Die gemeinsamen Bedürfnisse, die gemeinsamen politischen Ziele sind durchaus benennbar, aber in einer Reihe von Punkten noch nicht konkret umgesetzt. Das hat auch was damit zu tun, dass man die großen Bögen, die ATTAC manchmal schlägt - über weltweite Solidarität, Schuldenstreichung usw. - unbedingt ein Stück verkleinern muss. Die sind natürlich wichtig, aber man muss die ganze Sache unbedingt auf die eigene Lebenswelt runterbrechen. Es muss besser deutlich gemacht werden, was Globalisierung mit der Privatisierung der Stadtwerke und der Liberalisierung des Energiemarktes zu tun hat und mit all dem, was gerade in der eigenen Stadt, in der Kommune oder im Landkreis jeweils anliegt. Wenn es uns nicht gelingt, uns selber und auch nach außen deutlich zu machen, wo die Zusammenhänge von Privatisierung der Stadtwerke in einer deutschen Mittelstadt und der Überschuldung der kommunalen Haushalte in Porto Alegre, Brasilien, bestehen, dann wird die bisher durchaus deutlich geäußerte Solidarität bald an ihre realen Grenzen stoßen.

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