Repression

Deutschland im Herbst

Der erste Prozesstag

Am 2.11. sollte hier in Kiel vor dem Landgericht ein Prozess wegen Landfriedensbruch und totaler Kriegsdienstverweigerung stattfinden. Der Prozess selber und alle in seinem Umfeld geplanten Solidaritätskundgebungen wurden durch kriegführenden Polizeistaat erstickt.

Aber erst einmal im Einzelnen:

Es war geplant, in Form einer Demonstration gemeinsam vom Schauspielhaus zum Landgericht zu gehen. Mitten in der Sammlungsphase kam ein Vertreter des Ordnungsamtes und erklärte die beabsichtigte Demonstration und alle Ersatzveranstaltungen für verboten und kündigte an, jeden Versuch, Transparente zu entrollen oder Parolen zu rufen, sofort mit Gewalt zu unterbinden. Weil alle Anwesenden an diesem Morgen aufgestanden sind, um unseren Genossen vor Gericht zu unterstützen und weil die Polizeipräsenz ungewöhnlich massiv war, hatten wir uns für die Unterwerfung unter die Bedingungen des Polizeistaats entschieden. Alle sollten heil beim Gerichtsgebäude ankommen. Vor dem Landgericht wurde erst das ganze Ausmaß des Polizeiaufmarsches sichtbar! Ca. 25 Polizeieinsatzfahrzeuge umstellten praktisch das Gerichtsgebäude, was darauf schließen lässt, dass wir es mit ungefähr 150 Polizisten zu tun hatten, deren volle Aufmerksamkeit wir "genossen". Der Zugang zum Verhandlungssaal des Gerichtes war von einer extra für die Prozessöffentlichkeit aufgestellten Sicherheitsschleuse und entsprechendem Personal verstellt. Wir waren, genau wie unser Anwalt, beeindruckt von der Atmosphäre, die von den Polizisten um diesen Prozess herum geschaffen wurde. Der von den hohen Vertretern der westlichen Moral zurzeit permanent verwendete Terrorismusbegriff ist gestern offenbar von den Verantwortlichen der Anschläge in den USA bis zu uns herunterdefiniert worden.

Unter den oben geschilderten Bedingungen musste zu Beginn des durch Einlasskontrollen verzögerten Prozesses erst einmal geklärt werden, wessen Staatsschutzhirn die gegen uns gerichteten Maßnahmen eigentlich entsprungen sind. Durch eine Reihe von Anträgen, die unser Anwalt zur Klärung der Situation stellte, kam ein Szenario heraus, das Einiges an Aufschlüssen darüber zulässt, wer in Deutschland mit welcher Handlungsmacht ausgestattet ist. Danach hat offenbar die Polizeiführung dem Gerichtspräsidenten gegenüber ein Szenario entworfen, das eine von uns geplante, gewalttätige Demonstration im Gerichtsgebäude selber unterstellte. Als durch das Gericht benannte Quelle wurde unser Flugblatt benannt, also keine, denn da steht ein derartiges Szenario nicht drin. Der Gerichtspräsident hat auf Grundlage der durch die Poizei konstruierten Bedrohungsszenarien die Sicherheitsmaßnahmen angeordnet, auf die der Richter nach eigenen Angaben keinen Einfluss hatte und für sich auch keine Möglichkeit sah, diese an diesem Tag wieder zurückzunehmen.

Es wurde vom Anwalt klargestellt, dass der ganze Aufwand auf eine massive Einschüchterung der Öffentlichkeit, des Angeklagten und der anwaltlichen Vertretung selber hinaus läuft und unter diesen Umständen der Prozess eigentlich gleich in einer Polizeikaserne hätte stattfinden können. Während die Einschüchterung der Öffentlichkeit und des Angeklagten weitestgehend übergangen wurden, hinterließ die Erklärung des Anwaltes, dass auch er sich durch das massive Auftreten der Exekutive eingeschüchtert fühle, anscheinend Eindruck. Der Richter vertagte den Prozess auf Montag, den 12.11.01. um 9.00 Uhr. Er kündigte an, die Maßnahmen aufheben zu lassen.

Was die Einschüchterung der Öffentlichkeit betrifft - also unsereins - sollte die Lässigkeit, mit der sie im Prozess abgetan wurde, kurze Zeit später ihre konkrete Bedeutung erlangen. Kaum dass wir uns zum gemeinsamen Verlassen der Gegend gesammelt haben, wurden die ganzen Leute von einem massiven Polizeiaufgebot umstellt. Der gemeinsame Gang zum Frühstücken wurde von den Polizei kurzerhand zur verbotenen Versammlung erklärt. Unter dem Vorwurf des Verstoßes gegen das Versammlungsverbot wurden von allen Umstellten die Personalien aufgenommen und Fotos geschossen, um sie danach in Polizeiwannen wegzukarren und irgendwo in Kiel wieder rauszulassen. Dabei gingen einige der Polizei sehr rabiat vor und unterbanden jeglichen Unterstützungsversuch von außen mit massiver Gewaltandrohung.

Soviel erst einmal zum Verlauf des Prozesses. Zu sagen bleibt noch, dass alle Anwesenden sich trotz der massiven Gewaltandrohung durch die Polizei größte Mühe gegeben haben, eine lebendige Prozessatmosphäre herzustellen, was auch beim nächsten Prozesstermin unser Wunsch ist.

Das Vorbereitungstreffen zum nächsten Prozeßtag findet am Freitag, den 9.11.um 20.00 Uhr im Infoladen in der Hansastraße 48 statt.

Für die Terminierung des nächsten Prozesstermins müssen wir uns noch entschuldigen, er liegt genau in der Zeit, in der der nächste Castor-Transport rollt. Wir wissen, dass wir damit für etliche einen Entscheidungskonflikt produziert haben. Lasst euch einfach von euren eigenen Prioritäten leiten! Wir hoffen, dass wir trotz alledem genügend AntimilitaristInnen sein werden, um unsere GegnerInnenschaft zu Militarismus, Polizeistaat und Klassenjustiz zum Ausdruck zu bringen.

Zur Einschätzung:

Nach Ausschluss der Möglichkeit, dass der Einsatzleiter der Polizei mit dem falschen Bein aufgestanden ist und deswegen heiß auf eine Schlägerei war, bleiben noch einige Möglichkeiten auf welcher Grundlage wir das Polizeiszenario von gestern über uns ergehen lassen mussten:

  1. Der Polizeiapparat hat bis heute nicht verdaut, von der Kieler Bourgeoisie dafür angepöbelt worden zu sein, dass sie bei den Nato-Feierlichkeiten vor zwei Jahren für nicht genügend Schutz gesorgt haben. Dann wäre der Polizeiauftritt von gestern als eine Art Racheaktion zu verstehen, die uns beibringen soll, wer hier das Sagen hat. Größere politische Zusammenhänge würden dann keine Rolle spielen und es wären kaum Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.
  2. Die quasi-militärische Erdrosselung jeglicher Form von Protest und Widerstand sind Ausdruck des neuen Zeitgeistes, der Einzug in die Repressionsorgane Kriegsdeutschlands hält. Dann wird es mehr als Zeit, sich genauer um die Bedeutung des Terrorismusbegriffs zu kümmern, wie er zur Zeit zur Ausgestaltung des militärischen Klassenkampfes von oben gegen islamistische Strukturen in Anschlag gebracht wird. Es ist möglich, dass seine Verwendung in kürzester Zeit extrem ausgeweitet wird, wie die staatsterroristischen Vorgehensweisen gegen die Anti-Globalisierungsbewegung in jüngster Zeit schon mehr als angedeutet haben.
  3. Der Einsatz war ein Reflex oder auch Ausdruck der halbfaschistischen Überwachungsstaatsszenarien, wie sie zur Zeit in regelmäßigen Abständen aus dem Innenministerium herausquillen. Dabei ginge es weniger um unsere konkreten Inhalte, als vielmehr um die Anmaßung unsererseits, nicht jeden Furz, den wir lassen anzumelden und genehmigen zu lassen. Es könnte sein, dass sie uns mit Gewalt darauf aufmerksam machen wollten, dass wir zu akzeptieren haben, jegliche Bewegung und Aktion auf das ihnen genehme Maß zurechtstutzen zu lassen. Dann fordert das "Wir haben ja nichts zu verbergen-Deutschland" seine Allgemeingültigkeit gegenüber der Linken ein. Wahrscheinlich ist ein Mix verschiedener Interessenlagen der Ausgangspunkt des gestrigen Szenarios; nur eins ist sicher: Ein Versehen, das nicht wieder vorkommt, war es nicht!

Was können wir tun?

Die Beantwortung dieser Frage hängt unserer Meinung nach von der Entwicklung eigener Strukturen ab, die in der Lage sind, die Unterwerfungsstrategien des Repressionsapparates zu durchbrechen und eigene Interessen auch gegen massiven Druck von "Oben" durchzusetzen!

Nur eine Maxime sollten wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen machen:

Legal, illegal, scheißegal!

Nächster Prozesstermin:

Montag, 12.11.01. um 9.00 Uhr, Landgericht Kiel

Vorbereitungstreffen:

Freitag, 9.11.01 um 20.00 Uhr im Infoladen in der Hansastraße 48

Kiel, 3. November 2001 (einige ProzessbeobachterInnen)

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