Ausland

Argentinien

Selbstorganisation der Bevölkerung

Es ist still geworden um Argentinien in der internationalen Presse, nachdem Ende Dezember ein Volksaufstand die Präsidenten gleich zu Paaren aus dem Amt gejagt hat. Doch ganz zu unrecht: Zum einen ist die ökonomische Krise des südamerikanischen Landes genauso fern von einer Lösung wie im Dezember. Zum anderen sind die Demonstranten des Dezembers keineswegs wieder nach Hause gegangen. Ganz im Gegenteil: Argentinien erlebt eine enorme Welle der Politisierung und vor allem der Selbstorganisation.

Wie Pilze nach einem warmen Regen sind nach den großen Demonstrationen des Winters Nachbarschaftskomitees und solche der Arbeitslosen, der sogenannten Piqueteros aus dem Boden gesprossen, die das tägliche Leben organisieren, die Forderungen der Bevölkerung diskutieren und zu Demonstrationen und anderen Aktionen mobilisieren. Tauschringe würden entstehen, öffentliche Bäckereien für die Kinder eingerichtet und sich gemeinsam um die medizinischen Versorgung gekümmert, berichtete Liliana Olivero, Parlamentsabgeordnete aus Cordoba Anfang April in Berlin. Olivero gehört der (trotzkistischen) Sozialistischen Bewegung der Arbeiter (MST) an und befand sich auf Rundreise in Europa.

Die Komitees treffen sich gewöhnlich wöchentlich auf öffentlichen Plätzen und schicken Delegierte zu übergeordneten Versammlungen. Zu ihren Tätigkeiten gehören auch der gemeinsame Einkauf von Nahrungsmittel sowie die Auseinandersetzung mit den Gas,- Wasser- und Elektrizitätsbetrieben wegen der Höhe der Preise. In einigen Fällen wurden auch Nachbarschaftsbanken eingerichtet, damit die kümmerlichen verbliebenen Ersparnisse nicht dem Bankensystem überlassen werden müssen.

Der Tausch von Dienstleistungen ersetzt zum Teil die nahezu zusammengebrochene Währung. 14 verschiedene lokale Währungen würde es inzwischen geben, und Kredite sind, wenn überhaupt, nur für 100% oder mehr Zinsen zu erhalten. Bedingungen, unter dem die Wirtschaft zum erliegen kommen muss. Entsprechend nehmen Entlassungen und Betriebsbesetzungen zu. Die offizielle Arbeitslosenrate ist inzwischen bei über 25%. Fünf Millionen der knapp 36 Millionen Argentinier, so Olivero, müssen von weniger als einem Peso pro Tag leben (ca. 90 Cent). 20000 Kinder würden jährlich an einfach zu behandelnden Krankheiten sterben.

Unterdessen nimmt der Druck auf die Nachbarschaftskomitees zu. Auf der einen Seite sei die politische Klasse vollkommen desavouiert, so Olivero. Politiker und Militärs hätten ihre Wohnviertel aus Angst vor der Bevölkerung verlassen. Auf der anderen Seite mehren sich jedoch die Drohungen gegen und Überfälle auf Aktivisten zumeist von Anhängern der bürgerlichen Parteien, der peronistischen Gerechtigkeitspartei und der Radikalen Bürger Union.

Die Gefahr eines Militärputsches sah Olivero allerdings nicht, zumindest nicht für den Augenblick. Die Armee sei in der Gesellschaft vollkommen isoliert. Anders als während des Militärputsches hätte seine Herrschaft heute keine soziale Basis mehr, auch fehle es ihm an charismatischen Führern.

Unterdessen greift der neue Präsident, Eduardo Duhalde, der am ersten Januar vom Kongress eingesetzt wurde, die Selbstorganisationen scharf an: "Es ist unmöglich, mit diesen Nachbarschaftsvereinigungen zu regieren." Das Land würde in einem Zuviel an Demokratie ertrinken. Deshalb hat er wohl auch nicht vor, sich Neuwahlen zu stellen, wie es eine der zentralen Forderungen der Versammlungen ist, sondern will bis zum Ende der Legislaturperiode im September 2003 regieren. Andere Forderungen sind, berichtete Olivero, die Nationalisierung der Banken und des Außenhandels, die Annullierung der Auslandsschulden (rund 150 Mrd. US$, also eine Summe, die Argentinien niemals wird zurückzahlen können) und die Wiederverstaatlichung des öffentlichen Dienstes. (wop)

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