Interview

Der 11. September und die Folgen:

"Der Islamismus ist eine Krisenreaktion"

Norbert Trenkle ist Redakteur der Zeitschrift Krisis, des Theorieorgans des gleichnamigen wertkritischen Diskussionszirkels. Seit Anfang der 90er hat sich die Gruppe Krisis mit zahlreichen Publikationen in aktuelle linke Debatten eingemischt (u. a. mit dem »Manifest gegen die Arbeit« und dem Buch »Feierabend«). Zu den Folgen des 11. Septembers hat Krisis gemeinsam mit dem Kritischen Kreis in Wien eine Sondernummer der Zeitschrift Streifzüge (Nr. 3/01) herausgebracht. Mit Norbert Trenkle sprach Thomas Binger. Das Interview erschien zuerst in der jungen Welt. Wir drucken es mit der freundlichen Genehmigung des Autors ab.

 

LinX: Der aktuelle "Krieg gegen den Terror" findet bis weit in die Linke hinein politische Zustimmung. Angesichts der Selbstmordattentate in New York und Washington wird auch von bisherigen Kritikern die westliche Zivilisation gegenüber dem islamischen Fundamentalismus als das kleinere Übel wahrgenommen. Warum sieht die »Krisis-Gruppe« in den Argumenten der neuen Bellizistengeneration ein Symptom für den fortschreitenden intellektuellen Verfall der Linken?

Norbert Trenke: Diese bellizistische Linke hat sich von jeder ernsthaften Realanalyse der kapitalistischen Verhältnisse verabschiedet und ist deshalb auch konsequenterweise nicht mehr zu einer Kritik dieser Verhältnisse in der Lage. Wenn sie jetzt die sogenannte westliche Zivilisation verteidigen will, dann unterscheidet sie sich in absolut nichts mehr von Fischer, Schröder, den Bush-Kriegern und dem breiten Mainstream der veröffentlichten Meinung in Europa und den USA. Ausgeblendet wird von den linken und rechten Kreuzzüglern, dass der islamische Fundamentalismus in seiner heutigen Gestalt selbst ein Produkt der fundamentalen Krise eben dieser vielgerühmten westlichen Zivilisation, also des Kapitalismus, ist. Ein Teil der Kreuzzugslinken gesteht das zwar ganz allgemein zu, aber das ist nicht viel mehr als eine Reminiszenz an Zeiten, in denen sie noch kritisch dachten, ohne weitere Konsequenz.

Der Islamismus ist eine der vielen wuchernden Krisenreaktionsideologien. Man kann daher seine Analyse nicht abtrennen von einer Krisenanalyse und dann so tun, als sei hier der Westen mit seiner Zivilisation und dort die Barbarei. Es ist die Barbarei dieser kapitalistischen Zivilisation selbst, die im Islamismus und anderen Formen des religiösen Wahns, etwa dem protestantischen Fundamentalismus, dessen Einfluss bis ins Weiße Haus reicht, zum Vorschein kommt. Ebenso wie der um sich greifende Ethnizismus, Rassismus, Antisemitismus und dergleichen mehr. Darin drückt sich die innere Irrationalität eines gesellschaftlichen Systems aus, das an seine absoluten Grenzen stößt und in einen Prozess umfassender Zerstörung mündet. Die Kreuzzugsmentalität des Westens ist selbst ein Moment dieses verrückten Prozesses.

LinX: Ist es nicht eine Rationalisierung der monströsen Kamikaze-Attentate, wenn man ihre Ursachen ausschließlich aus der Krise des kapitalistischen Weltsystems ableitet?

N.T.: Nein, auf keinen Fall. Indem ich die Attentate analysiere, rechtfertige ich sie ja nicht. Es geht hier darum zu erklären, wie so etwas zustande kommt. Außerdem darf man den Krisenprozess, von dem ich spreche, nicht mit einer ökonomischen Krise im engen Sinne verwechseln. Er hat einen viel grundsätzlicheren Charakter. Er untergräbt die Fundamente der kapitalistischen Gesellschaftsformation, also die Bedingungen ihres Funktionierens. Das betrifft nicht nur die Kapitalverwertung, sondern die dazugehörige Staatlichkeit und die bürgerliche Subjektform. Und die war in ihrem Kern schon immer repressiv, gewalttätig und zerstörerisch. Nur, dass diese Momente in Zeiten eines »regulären« kapitalistischen Funktionierens in die »normale« Konkurrenz des Marktes und der persönlichen Selbstbehauptung kanalisiert werden. Wo aber der Funktionsrahmen zerbricht, wird auch die innere Gewalttätigkeit der modernen Subjektivität voll entfesselt.

LinX: Die antiislamistische Linke sieht in einem eliminatorischen Antisemitismus das zentrale Motiv der Attentäter vom 11. September und begründet damit die Notwendigkeit eines entschiedenen Kampfes gegen den Terror. Wenn Osama bin Laden zur Vernichtung aller Juden und Amerikaner aufruft, haben dann solche historischen Analogien zum deutschen Faschismus nicht ihre Berechtigung?

N.T.: Man kann nicht aus ideologischen Versatzstücken und Tendenzen mit eindeutig antisemitischem Charakter bei bin Laden, Al Qaida oder bei bestimmten islamistischen Strömungen eine Identität zum Nationalsozialismus herleiten. Das ist eine extreme Verkürzung der Analyse. Ich muss mir schon genauer anschauen, welche Rolle der Antisemitismus im Nationalsozialismus gespielt hat. Dort war er konstitutiv. Das heißt, er war ein wesentliches Moment für die Herausbildung der völkischen Identität im Kontext der verspäteten Nationenbildung in Deutschland.

Konstitutiv für den Islamismus -- ein übrigens ja sehr heterogenes Phänomen -- ist hingegen die koloniale und postkoloniale Demütigung und das Scheitern der nachholenden Weltmarkt-Modernisierung. Das macht ihn natürlich nicht besser. Er bleibt eindeutig antiemanzipatorisch und repressiv. Aber anders als der Nationalsozialismus kann er sich nicht mehr in einer staatlichen Vernichtungsmaschinerie verdichten, die prinzipiell in der Lage wäre, die Weltherrschaft zu erlangen. Das Bedrohliche am Islamismus ist gerade sein diffundierender, poststaatlicher Charakter, der ihn ideologisch kompatibel mit dem "molekularen Bürgerkrieg" macht, der die Gesellschaft von innen heraus zersetzt. Deshalb läuft die militärische Bekämpfung des Islamismus ohnehin ins Leere, ja schürt sogar noch, was sie vernichten will. Notwendig ist hingegen eine Solidarisierung derjenigen Ansätze sozialer Bewegung, die sich dem Wahnwitz der beiden feindlichen Brüder gleichermaßen verweigern, dem Islamismus ebenso wie dem Fundamentalismus der westlichen Werte, also des Werts.

LinX: Die antideutsche Strömung der Linken beruft sich bei der theoretischen Untermauerung ihrer Positionen gerne auf die Thesen von Horkheimer und Adorno. Haben die antideutschen Wortführer die "Dialektik der Aufklärung" einfach nicht richtig verstanden?

N.T.: Was sie verstanden haben, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls ist ihre platte Verteidigung der Aufklärung theoretisch eine Regression gegenüber der Dialektik der Aufklärung. Adorno und Horkheimer erklären ja ganz klar Faschismus und Nationalsozialismus aus der Aufklärung heraus. Als das Umkippen der Aufklärung in den Irrationalismus, der in ihr selbst angelegt ist. Es kommt noch hinzu, dass Horkheimer und Adorno den Nationalsozialismus auch historisch ganz klar auf die Entwicklung des kapitalistischen Weltsystems beziehen, wie sie es damals analysiert haben: als Entwicklung hin zum "Staatskapitalismus".

So sehr diese Analyse auch überholt ist, verweist sie doch auf einen wichtigen Punkt: auf die -- trotz aller Differenzen -- strukturelle Verwandtschaft von Nationalsozialismus, Stalinismus und New Deal. Das heißt, sie isoliert den Nationalsozialismus nicht gegenüber "dem Westen" als ein äußerliches Phänomen, sondern ordnet ihn in eine Gesamttendenz des Kapitalismus ein, selbstverständlich ohne deshalb seine spezifische bestialische Qualität zu leugnen.

Bei den Antideutschen hingegen erscheint der Nationalsozialismus plötzlich als etwas völlig wesensfremdes gegenüber den Werten der Demokratie und des westlichen Kapitalismus, weshalb dieser konsequenterweise nun auch als Hort der Zivilisation verteidigt werden soll. Eine recht bemerkenswerte Wiedervereinigung mit Habermas.

LinX: Neben der Kritischen Theorie ist auch die Wertkritik eine beliebte theoretische Referenz der Antideutschen. Der wertkritische Ansatz betont sehr stark die abstrakte Eigendynamik der Kapitallogik und abstrahiert weitgehend von konkreten sozialen Subjekten und politischen Kräfteverhältnissen. Liegt hier nicht bereits eine mögliche Ursache für die völlige Verselbständigung der Ideologiekritik, wie sie bei den Antideutschen zu beobachten ist?

N.T.: So etwas wie "die Wertkritik" hat es eigentlich nie gegeben, sondern immer nur verschiedene wertkritische Ansätze. Auf jeden Fall aber stellt sich das Problem, zu klären, wie die verobjektivierten warengesellschaftlichen Beziehungen sich durch die Subjekte hindurch herstellen. Die gesamte Traditionslinke hat dieses Problem nie wirklich ernst genommen, sondern es in Richtung der handelnden Subjekte aufgelöst - paradigmatisch im Klassenkampf. Die Antideutschen ihrerseits sind über eine Analyse des Warenfetischismus auf der abstraktesten begrifflichen Ebene nicht hinausgekommen, ja machen sogar aus der Not eine Tugend, indem sie behaupten, dies sei gar nicht möglich. Dadurch gerinnt ihnen der kapitalistische Formzusammenhang zu einer starren, unhistorischen und hermetisch in sich abgedichteten Struktur. Als Ansatzpunkt bleibt nur die Ideologiekritik, die aber erstens selbst historisch unvermittelt bleibt und zweitens im Grunde auch ihren Standpunkt nicht mehr ausweisen kann. Deshalb gewinnt sie einen merkwürdig sterilen und rituellen Charakter.

LinX: Sie sprechen ja auch gerne vom Kapital als dem automatischen Subjekt?

N.T.: Richtig! Das ist ein Begriff, an dem ich auf jeden Fall festhalte. Er zielt darauf, dass der kapitalistische Gesamtprozess nicht von irgendwelchen Großsubjekten -- Staaten, Monopolkapitalisten oder was auch immer -- gesteuert wird, sondern einer blinden, verobjektivierten Logik folgt. Strenggenommen handelt es sich also um einen subjektlosen Prozess. Wenn Marx nun feststellt, der Wert oder das Kapital sei das automatische Subjekt dieses Prozesses, dann ist das eine polemische Zuspitzung gegenüber einem an und für sich verrückten Zustand: dass nämlich die Menschen ihr Schicksal von einem verdinglichten Etwas bestimmen lassen, das nichts anderes repräsentiert als ihre eigenen gesellschaftlichen Beziehungen.

Allerdings geht dieser verobjektivierte Prozess durch die Menschen hindurch. Das heißt, sie müssen ihn in ihrem Handeln exekutieren. Deshalb gibt es auch keinen strengen Determinismus in dem Sinne, dass man beispielsweise sagen könnte, dieser oder jener Krieg war unvermeidlich, oder die Geschichte musste genau so verlaufen, wie sie verlaufen ist. Es gibt immer verschiedene Handlungsoptionen, und natürlich spielen auch immer Interessen, Ideologien und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eine Rolle. Aber der vorausgesetzte Formzusammenhang von Ware und Wert gibt den Rahmen dieses Handelns vor.

Sicherlich stand in der "Krisis" die Ebene der handelnden Subjekte lange Zeit etwas im Hintergrund. Gerade gegenüber dem vorherrschenden Subjektivismus in der Linken, wo das Kapitalverhältnis immer im wesentlichen auf Interessen, Klassenkämpfe etc. zurückgeführt wurde, haben wir sehr stark auf den objektivierten Charakter des Ganzen insistiert. Dabei haben wir uns vor allem darauf konzentriert, die Wertkritik historisch und realanalytisch zu fundieren und zu konkretisieren und sie darüber für eine Analyse der aktuellen Entwicklung des Kapitalismus fruchtbar zu machen. Man könnte uns also mit einem gewissen Recht eine objektivistische Schlagseite vorwerfen. Aber wenn man sich mal die diversen Aufsätze zur Subjekt- und Ideologiekritik in der Krisis anschaut, vor allem auch die Texte von Roswitha Scholz zum Geschlechterverhältnis, relativiert sich dieser Vorwurf durchaus. Dennoch besteht hier natürlich noch sehr großer Klärungsbedarf.

LinX: Was wäre denn notwendig, um die Ideologiekritik von dem verschwörungstheoretischen Kopf, auf den sie jetzt gestellt wurde, wieder auf ihre politökonomischen Füße zu stellen?

N.T.: Ganz grundsätzlich gesagt: Ideologiekritik muss immer mit Realanalyse vermittelt werden, also mit einer Analyse der konkret-historischen Verhältnisse des Kapitalismus, wie er sich hier und heute darstellt. Denn es ist zwar richtig, dass die ideologischen Muster, Projektionen und Wahnvorstellungen, die der Kapitalismus hervorbringt -- wie der Antisemitismus, der Rassismus und der Sexismus --, sich auf die Warenform und das von der Warenform Abgespaltene zurückführen lassen, aber das genügt nicht. Obwohl es sich hierbei um strukturelle Konstanten handelt, die sich durch die gesamte Geschichte der Moderne hindurch reproduzieren, verändern sie doch ihre Gestalt und ihre Ausdrucksformen im historischen Prozess. Der Rassismus heute ist nicht mehr derselbe wie der im 19. Jahrhundert, und auch der Antisemitismus hat seine Wandlungen durchlaufen. Ohne eine Analyse der historischen Verlaufsform des Kapitalismus -- und das heißt heute im wesentlichen: Krisenanalyse -- lässt sich das nicht erklären, und die Kritik wird stumpf.

LinX: Was bleibt von der behaupteten Fundamentalopposition der Antideutschen, wenn nicht mehr das deutsche Weltmachtstreben, sondern der Islam die Rolle des neuen Hauptfeindes einnimmt? Wird so etwa eine anti-antisemitische Position zum links-deutschen Sonderweg einer Versöhnung mit der kapitalistischen Normalität?

N.T.: Ja, ganz eindeutig. Das ist ja sogar offen so von ihnen gesagt worden, dass sie sich da für das vorgeblich kleinere Übel entscheiden. Immer so mit diesem Vorbehalt, wenn der islamische Fundamentalismus besiegt sei, dann dürfe man wieder an Revolution denken. Und das ist natürlich nichts als eine leere Phrase. Hier blamiert sich eine Position, die einfach keine Begriffe dafür hat, was an realen Entwicklungen in der Welt vor sich geht und es im Grunde auch gar nicht wissen will. Was übrigbleibt, ist ein Haltungsradikalismus, der Ideologiekritik mittlerweile vor allem identitätspolitisch instrumentalisiert und zu diesem Zweck auf ein paar Lehrsätze heruntergebrochen hat, die ohne großes Denken leicht handhabbar und jederzeit anwendbar sind. Das ist um so schlimmer, als damit die Kritik des Antisemitismus, die heute nicht nur in der Linken dringender nötig ist denn je, de facto entwertet wird.

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