Interview

Über moderne Mythen und die Huntington-Linke

"Sozialismus oder Barbarei"

Über die Huntington-Debatte in der bürgerlichen Öffentlichkeit und in der Linken sprach Thomas Binger mit Gazi Caglar, Politik-, Geschichts- und Religionswissenschaftler mit Lehrauftrag am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Hannover. Gazi Caglar floh nach dem Militärputsch 1980 aus der Türkei und war in der Bundesrepublik in der Türkei-Solidaritätsbewegung u.a. als Herausgeber der Türkei-Informationen aktiv. Zuletzt erschien von ihm "Der Mythos vom Krieg der Zivilisationen. Der Westen gegen den Rest der Welt". Eine Replik auf Samuel P. Huntingtons "Kampf der Kulturen". Beim Kongress ‘Tatort Globalisierung’ der Bundeskoordination Internationalismus in Frankfurt saß Gazi Caglar auf dem Podium der Auftaktveranstaltung "Globalisierung und Imperialismus".

LinX: Huntingtons "Kampf der Kulturen" steht nach den Anschlägen vom 11. September hoch im Kurs. Welche Bedeutung haben die Thesen des Havard-Professors Samuel P. Huntington für die amerikanische Außenpolitik nach dem 11.09.01?

Gazi Caglar (G.C.): Die Thesen sind zu einem Zeitpunkt entstanden, als die USA für ihre Außenpolitik und militärische Überlegenheit nach einem neuen Feindbild gesucht haben. In dieser Phase hat Huntington im Zusammenhang mit seiner Beratertätigkeit für die amerikanische Regierung seine Thesen entwickelt. Sie haben für die Außenpolitik der USA nach dem 11.09. zunächst einmal in der heißen Phase als ein Erklärungsmuster eine gewisse Rolle gespielt und spielen sie meines Erachtens nach wie vor. Die Tatsache, dass die USA auf die Allianz mit einigen islamischen Regierungen angewiesen war, um in Afghanistan eine derartige Operation durchführen zu können, hat seine Thesen etwas in den Hintergrund treten lassen. Dennoch hat Huntingtons Behauptung, von einer gegenüber dem Westen prinzipiell feindseligen Einstellung der islamischen Zivilisation, in den außenpolitischen Eliten der USA immer noch eine große Wirkungskraft.

LinX: Huntington selber hat nach dem 11. September vor einer Interpretation der Anschläge nach dem Kulturkampfschema gewarnt. Er sprach vielmehr davon, dass das World Trade Center als Symbol des Kapitalismus und das Pentagon als Symbol der amerikanischen Militärmacht angegriffen wurden. Warum relativiert Huntington ausgerechnet zu einem Zeitpunkt seine Position, wo sie als populäre Interpretation der aktuellen weltpolitischen Lage eine überraschende Renaissance erlebt?

G.C.: Huntington wollte dem Versuch der USA in der islamischen Welt Bündnispartner zu finden keine Steine in den Weg legen. Außerdem sind die Anschläge von einer derart neuen Qualität, dass auch Huntington nicht damit gerechnet hat. Er hat letztendlich seine Thesen nicht relativiert, sondern hat die Attentäter und ihre Motive den Motiven von Barbaren gleichgestellt. Er sprach von einem Attentat von Barbaren auf die Zivilisation. Von daher handelt es sich in seinen Augen auch nicht um einen Krieg zwischen zwei Zivilisationen, sondern um einen Konflikt weit unterhalb dieser Ebene.

LinX: Sie wenden sich explizit dagegen, die Anschläge als Folge des US-Imperialismus oder der gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnisse zu analysieren. Worin sehen Sie die entscheidenden Ursachen für Islamismus und Selbstmordattentate?

G.C.: Ich wende mich dagegen, die Anschläge als unvermeidliche Folge des US-Imperialismus und seiner Politik im Mittleren Osten zu werten. Selbstverständlich hat die US-amerikanische imperialistische Politik nach dem zweiten Weltkrieg dazu beigetragen, dass die Krisenpotenziale in dieser Region sich verschärft haben. Aber man muss auch sehen, dass die islamistischen Bewegungen mittlerweile zu Bewegungen mit einer eigenen inneren Dynamik geworden sind. Es sind Bewegungen, die ihre eigenen Zielsetzungen haben, die ihre eigenen Vorstellungen von der Welt haben, die ihre eigenen taktischen und strategischen Überlegungen zu ihren politischen Vorhaben haben. Selbstverständlich sind diese Bewegungen auch ein Ergebnis der US-amerikanischen Politik der Einkreisung der Sowjetunion durch islamistische Bewegungen, vor allem in den sog. Turkrepubliken. Letztlich sind es ja genau diejenigen Djihadisten, die der CIA großgezogen hat, die jetzt in Tschetschenien und Afghanistan unterwegs sind, um eine Art islamistischer Internationale ins Leben zu rufen. Das zeigt, dass eine eigene Dynamik eingesetzt hat. Man muss sehen, dass diese islamistische Politik mit einer militaristischen Politik des Westens genauestens korrespondiert, dass also zwei Sphären mit eigenen Dynamiken aufeinandertreffen, die sich gegenseitig ergänzen.

LinX: In welchem Verhältnis stehen Gewalt und Krieg, Terror und Barbarei zur westlichen Zivilisation?

G.C.: In der Bestürzung über die Attentate in den USA wurden teilweise Krokodilstränen vergossen. Angesichts des alltäglichen Massensterbens von Kindern auf dieser Erde in Folge einer IWF-Politik, einer kapitalistischen Politik, deren agierende Mächte vor allem im Westen sitzen, war die von Oben verordnete Trauer eine Farce. Wenn man sich seit Beginn des Kolonialismus - der eine wichtige Etappe in der Entwicklung des Kapitalismus darstellt - die Gewaltgeschichte der kapitalistischen Barbarei anschaut, deren mächtigste Nationalstaaten nach wie vor in Westeuropa und Nordamerika sitzen, dann haben wir den richtigen Maßstab von dem ausgehend über die Welt nachgedacht werden kann. Keinesfalls gibt es einen solchen Maßstab in Form von Zivilisationen, von denen einzig die westliche zur Entwicklung fähig ist, während die anderen ewige Gefängnisse darstellen.

LinX: Welche Rolle spielt der Kultur- und Menschenrechtsdiskurs in der aktuellen Politik des Westens nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Gegensatzes?

G.C.: Für die Herrschenden spielt dieser Diskurs die Rolle der Rechtfertigung eines doppelten Standards gegenüber Regionen, in denen eine offen terroristische nationalstaatliche Vereinheitlichung - auch im Interesse des Westens - stattfindet. Der Westen bemüht gegenüber diesen Ländern immer dann den Menschenrechtsdiskurs, wenn er mit ihrer aktuellen Politik nicht einverstanden ist.

Nehmen wir das Beispiel Türkei: Es gab vom Westen gegenüber der türkischen Regierung immer wieder den Vorwurf, sie würde sich nicht an die Menschenrechte halten. Die Türkei führt einen Krieg gegen das kurdische Volk. Es ist ganz klar, dass das türkische Militär, mit den Mitteln, die der Westen geliefert hat, das kurdische Volk über 15 Jahre drangsaliert hat. Trotzdem haben die Menschenrechte den Westen nicht dazu verpflichtet, wenigstens mit der offenen Militärhilfe Schluss zu machen. Die Rolle des gegenwärtigen Menschenrechtsdiskurses würde ich einfach in einem erhöhten Bedarf der Verschleierung einer auf offene Ausbeutung und Absicherung von Ressourcen zielenden Politik des Westens sehen.

LinX: Angesichts des islamistischen Terrors beziehen sich in der Bundesrepublik auch viele Linke positiv auf die kapitalistische Moderne, deren Glücksversprechen gegenüber einem archaischen Unterdrückungssystem zu verteidigen sei. Ist es nach dem 11. September zu dem absurden Phänomen der Herausbildung einer Huntington-Linken gekommen?

G.C.: Ich finde diesen Begriff witzig und zutreffend. Aus diesem Grunde werde ich ihn mir merken. Diese Linke sieht einfach nicht, dass die Vormoderne - deren Protagonisten die islamistischen Bewegungen sein sollen - keine Vormoderne ist, sondern integraler Bestandteil der kapitalistischen Moderne. Das heißt, selbst die Taliban-Gesetze in Afghanistan sind durch die kapitalistische Moderne vermittelt worden und zwar in der Version der sog. asiatischen Werte. Die Linke, die meint sich gegenüber solchen Ausbrüchen von Gewalt auf die Errungenschaften der kapitalistischen Moderne, also auf bestimmte demokratische Grundregeln, auf bestimmte Menschenrechte und auf bestimmte kulturelle Freiheitsspielräume, zurückziehen zu müssen, unterstütze ich in ihrem Bestreben. Aber um das zu tun, also um die so genannte Errungenschaften der bürgerlichen Ära für sich zu reklamieren, muss man sich nicht unbedingt auf die Seite der kapitalistischen Moderne schlagen. Die Alternative ist heute nicht Vormoderne/ Islamismus/ Fundamentalismus auf der einen Seite und die bürgerlich-demokratisch verfasste kapitalistische Ordnung auf der anderen Seite. Die Alternative besteht nach wie vor darin - gerade im Bewusstsein dessen, dass diese islamistischen Bewegungen auch ein Produkt dieser kapitalistischen Moderne sind - gegen diese kapitalistische Weltordnung für eine sozial gerechte Weltordnung zu kämpfen.

LinX: Sie glauben also nicht, dass die Alternative Sozialismus oder Barbarei durch die Alternative Zivilisation oder Barbarei abgelöst worden ist?

G.C.: Nein, weil die Alternative Sozialismus oder Barbarei im Bewusstsein der Dialektik von Kapitalismus und Barbarei formuliert ist. Die Tatsache, dass dem Kapitalismus die Barbarei inhärent ist, hat dazu geführt, dass diese Alternative formuliert wurde. Daran hat sich überhaupt nichts verändert. Im Gegenteil: die Verhältnisse haben sich weltweit weiter verschärft. Wer sich die Schere zwischen Arm und Reich weltweit anschaut, wer sich also allein die Tatsache anschaut, dass 80 Prozent der Weltressourcen von 20 Prozent der Menschheit verbraucht werden, der weiß, wie aktuell diese Alternative ist.

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