Interview

Israelisch-palästinensischer Konflikt

"... wenn die Menschlichkeit stirbt"

Nach wie vor ist kein Ende der Tragödie in Israel und Palästina in Sicht. Die israelische Armee setzt ihre Operationen in der Westbank fort, wo das öffentliche Leben zum Erliegen gekommen ist. Allen Beteuerungen der Falken zum Trotz kann das harte Vorgehen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung die Selbstmordanschläge nicht stoppen. Wir führten per Email ein Interview mit der palästinensischen Feministin Amal Khreishe. Sie leitet in Ramallah das Büro einer palästinensischen Frauenorganisation und ist Vorstandsmitglied von Bat Shalom in Jerusalem, eines feministischen, israelisch-palästinensischen Friedenszentrums. (wop)

LinX: Sie sollten am 8. Juli in Athen auf einer internationalen Menschenrechtskonferenz sprechen, konnten aber Ramallah nicht verlassen. Weshalb nicht?

Amal Khreishe (A.K.): Leider ist mir diese wichtige Gelegenheit, den Standpunkt der palästinensischen Frauen darzulegen entgangen. Das israelische Militär hat seit dem 23. Juni über Ramallah eine 24-stündige Ausgangssperre verhängt. Außerdem wird schon seit Monaten jedem verboten Ramallah zu verlassen oder zu betreten. Viele versuchen, diese Belagerung auf verschlungenen Pfaden zu umgehen, um zum Beispiel nach Jerusalem zu kommen. Viele wurden dabei bereits getötet. Es wird auf alles geschossen, was sich bewegt. Überall in der Stadt sind Panzer. Nicht einmal Krankenwagen können sich frei bewegen, sondern werden mitunter für Stunden durch Kontrollen aufgehalten. Ab und zu wird die Ausgangssperre für einige Stunden aufgehoben, so dass ich für die nächsten fünf oder sechs Tage Lebensmittel für meine Kinder kaufen kann. Wegen all dem konnte ich nicht einmal zum griechischen Konsulat ins benachbarte Jerusalem, um mir ein Visa zu besorgen.

LinX: Wie wirken sich die jüngsten militärischen Operationen auf die Schüler und Studenten aus?

A.K.: Die Studenten können ihre Universitäten nicht erreichen, weil man sich in der Westbank kaum noch von Stadt zu Stadt bewegen kann. Auch die Schüler der Sekundarstufe (Tawjihi) können nicht an ihren Abschlussprüfungen teilnehmen. Die Kinder leiden sehr. Eigentlich haben sie jetzt Sommerferien, aber wegen der Ausgangssperre sitzen sie alle Zuhause und werden zudem noch Zeugen, wie unschuldige Menschen getötet werden. Sie können nicht einmal auf die Spielplätze, geschweige denn, dass sie in Sommerlager fahren oder schwimmen gehen könnten. Wir verlieren langsam das Vertrauen in die Zukunft, und wenn erst die Hoffnung geschwunden ist, übernehmen Gewalt, Hass und Wut das Feld.

LinX: Wie könnte eine Lösung des Konflikts aussehen?

A.K.: Aus unserer Sicht kann das nur ein gerechter Frieden auf der Grundlage zweier Staaten für zwei Völker sein mit Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten. In verschiedenen Resolutionen haben die Vereinten Nationen Israel aufgefordert, sich hinter die Grenzen vom 4. Juni 1967 zurückzuziehen, und das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr anerkannt.

Wie andere auch, glaube ich, dass es ohne eine politische Lösung des Konflikts für Frauen keinen sozialen und demokratischen Fortschritt, keine Gleichberechtigung geben kann. In Palästina gab es vor dem Ausbruch der jetzigen Intifada am 28. September 2000 vielerlei Versuche, ein modernes Familienrecht durchzusetzen. Es gab in dieser Frage einen deutlichen Konflikt zwischen den demokratischen und fundamentalistischen Bewegungen, aber wir müssen heute diesen Konflikt hinten anstellen, um ums Überleben zu kämpfen. Die israelische Besatzung zerstört systematisch die Infrastruktur der palästinensischen Wirtschaft. Hinzu kommen die Erniedrigungen, die jeder von uns ertragen muss. Unser spirituelles Leben wird Schritt für Schritt abgetötet.

LinX: Es gab einen Aufruf palästinensischer Intellektueller, die Selbstmordattentate einzustellen. Hat Ihre Organisation diesen unterstützt?

A.K.: Meiner Ansicht nach ist die anhaltende tägliche israelische Gewalt, die in alle Lebensaspekte jedes Einzelnen hier eingreift, - für mich der Höhepunkt des Terrorismus - der Hauptgrund für die Selbstmordanschläge. Die Regierungen Baraks und Scharons haben den Palästinensern gelehrt, so zu denken, in dem sie hunderte von ihnen töteten, in dem sie auf Demonstranten schossen, indem sie uns belagerten und unsere Städte abriegelten und uns an den Kontrollpunkten beleidigen und erniedrigen. Einige der palästinensischen Parteien benutzen die Anschläge als eine Form der Verteidigung und des Kampfes, da die Israelis täglich Zivilisten töten. Sie wollen damit die israelische Bevölkerung davon überzeugen, dass es für sie keine Sicherheit gibt, bevor die Besetzung nicht aufhört. Die Hauptverantwortlichen sitzen also in der Regierung Scharon und diese Anschläge werden automatisch aufhören, sobald man uns eine klare Aussicht auf eine Lösung des Konfliktes gibt, und zwar zusammen mit einem Zeitrahmen und einem neutralen internationalen Ansprechpartner, eine Rolle, die die Europäische Union übernehmen müsste.

Doch wenn man uns auffordert, die Anschläge zu beenden, Reformen umzusetzen und die Demokratie auszuweiten, ohne uns die entsprechenden Möglichkeiten zu geben, dann ist es, als werfe man uns Sand in die Augen. Wie können wir zum Beispiel eine unabhängige Justiz aufbauen, wenn sich das Richter-Kommitee nicht treffen kann, weil eines der Mitglieder aus Jenin und ein anderes aus Gaza ist? Wie können wir Wahlen durch führen, wenn sich der zentrale Wahlausschuss, dessen Mitglied ich bin, nicht treffen kann?

Meiner Meinung nach müssen Europa, die USA und Israel zunächst ihren Verpflichtungen nachkommen und einen gerechten Frieden schaffen. Dann wird es auch keine Anschläge und keine toten Zivilisten mehr geben; dann können sie von uns verlangen, dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen.

Aus ethischer Sicht bin ich gegen jedes Töten von Zivilisten. Ich weinte, als ich nach dem Anschlag in der Jafa street sah, wie eine israelische Mutter im Krankenhaus mit ihrem verletzten Sohn sprach. Aber mein 16-jähriger Sohn wurde ernsthaft wütend mit mir und meinte: "Mama, wie kannst du sie bedauern? Hast du vergessen, wie sie das kleine Kind unserer Nachbarn umgebracht haben, als es in seinem Zimmer spielte?" Ich habe ihm geantwortet: "Sie können töten und zerstören, aber die eigentliche Katastrophe ist es, wenn sie unsere Menschlichkeit abtöten. Ich bin eine Mutter und sie ist eine Mutter und wir müssen zusammenarbeiten, um gemeinsam unsere Menschlichkeit, die uns verbindet, zu verteidigen."

Ich denke also, dass Frauen von beiden Seiten den Dialog fortsetzen und das Vertrauen wieder herstellen müssen, und zwar im Interesse eines gerechten Friedens, der das Töten beendet und zukünftigen Generationen Hoffnung auf ein besseres Leben schafft.

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