Bundestagswahl

Politik nach Börsenart: eine Bilanz der rotgrünen Bundesregierung

Gauklerdämmerung

Zwei Menschengruppen waren zu Beginn des Sommerlochs Ziele des Volkszorn, soweit er in der veröffentlichten Meinung erzeugt und ausgestellt wurde: Erstens die angeblich betrügerischen und überbezahlten Manager börsennotierter Unternehmen, zweitens Politiker, die gegen die Benimmregeln verstoßen haben. Es ist zu fragen, ob diese beiden Phänomene eine gemeinsame Ursache haben. Auf den ersten Blick hat das Beben im öffentlichen Gemüt zwei verschiedene Zentren: einerseits die Börse, andererseits die Regierung.

Die Börse

Zur Zeit wird da und dort mal wieder schlecht über den Kapitalismus geredet. Es gehe unseriös zu in der Wirtschaft. Kleinanleger seien um ihre Ersparnisse gebracht worden, während scheidende Manager Millionenabfindungen erhielten. In rascher Folge wurden Bilanzfälschungen großer Kapitalgesellschaften aufgedeckt, Börsensterne verglühten, und das eine oder andere Weltunternehmen ging pleite.

Schon vor mehreren Jahren war ein Buch mit dem Titel Nieten in Nadelstreifen populär. Seit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods (1973) und dem »Big Bang« an der Londoner Börse 1986 (damals begann die Liberalisierung der Kapitalmärkte) blieben die Manager offenbar auch nicht mehr, was sie einmal waren. Jetzt sollten sie Erfolge nicht länger vor allem in der Produktion vorweisen, sondern durch Steigerung der Aktiennotierung sowie den Verkauf ganzer Unternehmen, deren Kurs vorher in die Höhe getrieben worden war, oder durch ihre feindliche Übernahme, wofür oft große Schulden (pardon: Fremdmittel) aufgenommen werden mußten.

Diese Umwälzung war nicht von den Managern selbst ausgelöst worden, sondern von den Anteilseignern. (Man sprach von einer "Shareholder-Revolution".) Die Dividenden waren für diese nur interessant als ein Indikator unter anderen, an dem sich ablesen ließ, ob die Aktien mit Gewinn verkauft werden konnten oder ob man hoffen durfte, sie im Alter noch auf hohem Niveau genießen zu können. Eine Bilanzfälschung war dabei gut und nicht schlecht: Sie steigerte die Kurse. Ein Manager, der sie zu Unzeit unterließ, wäre gefeuert worden.

Die Börse beruht nämlich notwendig auf der Weckung und Enttäuschung von Erwartungen. Wenn Sie ohne Not eine Aktie verkaufen, gehen Sie von der Annahme aus, sie habe jetzt wohl ihren höchsten Stand erreicht, werde sinken oder sich nur noch weniger verbessern als andere, zu denen Sie umsteigen wollen. Ihr Abnehmer denkt gerade umgekehrt, und jeder rechnet darauf, dass der andere sich täuscht. Der Unterschied zwischen Erwartung und Ergebnis ist also Voraussetzung des Geschäfts.

Im Crash bezeichnen die Verlierer die Gewinner als Betrüger. Ein Manager, der gepriesen wurde, weil er die Kurse in die Höhe trieb, wird jetzt verdammt, wenn sie ins Bodenlose fallen. Daß er dann auch noch eine hohe Abfindung erhält, erscheint als der pure Hohn. Diese Kritik ist ungerecht. Der Mann hat - und sei es durch Weckung überzogener Erwartungen an der Börse - den Aktionären die Chance gegeben, im passenden Moment einzusteigen und in einem ebenfalls richtigen anderen Augenblick wieder zu verkaufen. Wäre er nicht zu vornehm, dürfte er sie als betrogene Betrüger bezeichnen.

Die "Financial Times" wundert sich darüber, dass die Abfindung von 30 Millionen Euro für den Mannesmann-Manager Klaus Esser jetzt die Staatsanwaltschaft beschäftigt. Der Ausgang des Verfahrens sei "an important test of whether Germany is embracing, adapting or rejecting the ways of world business". Der Volkszorn kann das unmöglich so sehen. Er entdeckt Skandale, die auf persönliches Fehlverhalten zurückzuführen seien. Diese Umschwünge studieren wir im folgenden nicht länger an der Wirtschaft, sondern an der Politik.

Die Regierung

Das Börsenwesen der neunziger Jahre unterschied sich von vorangegangenen Perioden nach 1945 dadurch, dass es eine Kultur auch außerhalb der Wirtschaft prägte. Ganz früher hatten wir das schon einmal: in den "Gründerjahren" 1871-1873. Der jüngste Anfall hat länger gedauert.

Politik nach Börsenart arbeitet ebenfalls mit den Erwartungen des Publikums. Wir kennen die Positur, die Gerhard Schröder für den Wahlkampf 1998 einstudierte: die Arme gehen V-förmig nach oben. Charakteristische Teile dieses Bewegungs-ablaufs lassen sich in der Disco ebenso beobachten wie in Fernsehbildern vom Börsenparkett, wenn's gut läuft.

Grüne Gartenzwerge

Die Weckung von Erwartungen in der Politik heißt Versprechen. Ihre Enttäuschung äußert sich häufig in ein paar zersplitterten Skandalen. Konzentriert man sich bei der Analyse der rotgrünen Wahlverheißungen von 1998 auf das Wesentliche, beschränken sie sich - von Tagesdemagogischem abgesehen - auf zwei Punkte: Senkung der Steuern und der Arbeitslosigkeit. Letzteres erklärte Schröder zu seinem zentralen Erfolgkriterium.

Einkommens- und Unternehmenssteuern sind tatsächlich herabgesetzt worden. Man darf hier also von der Erfüllung eines Versprechens reden. Es war vor allem den Unternehmern gegeben worden. Als Eichel die Veräußerungsgewinne vom Zugriff des Fiskus freistellte, gingen an der Börse die Kurse in die Höhe: eine Ovation für den Finanzminister. Die Verbrauchssteuern wurden teilweise erhöht. Das ist nicht so gut für das Netto-Lohneinkommen und den Massenkonsum.

Auf zwei Gebieten leistete die Regierung mehr als versprochen. Erstens führte sie einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und erfüllte das bis dahin nur verbale Postulat von Volker Rühe, die Bundeswehr müsse eine Interventionsarmee werden, mit Leben. Die zweite Überraschung gab es auf dem Gebiet der Rentenpolitik. Der Kandidat Schröder hatte versprochen, er wolle Kürzungen, die von Kohl und Blüm vorgenommen worden waren, wieder aufheben. Das geschah tatsächlich kurz nach der Wahl. Anschließend führte Riester die Rentenminderung nicht nur wieder ein, sondern er tat etwas, was sich Blüm nie getraut hätte: Er ging teilweise von Adenauers Prinzip der umlagefinanzierten Rente ab und ergänzte das bisherige - nun gestutzte - System durch die Kapitaldeckung. Das ist gut für die privaten Versicherer, die bekanntlich zugleich "institutionelle Anleger" (siehe oben: Börse) sind. Deren Freude und Gewinnerwartung dürfte noch dadurch stabilisiert worden sein, daß der Staat in bestimmten Fällen - wenn Niedrigverdiener nicht einzahlen können -, noch etwas hinzugibt.

Dass die Unternehmer im jetzigen Wahlkampf dennoch zu Schwarzgelb tendieren, mag undankbar erscheinen. Sie selbst argumentieren, das bisher Geleistete sei ihnen zu wenig. So habe sich Schröder leider nicht getraut, die Krankenversicherung nach demselben Muster zu reformieren wie die Rente und auf diese Weise die schrecklichen Lohnnebenkosten herabzusetzen. Und die Steuersenkungen seien ohnehin zu zaghaft. Von Stoiber/Westerwelle erhofft man sich jetzt deshalb mehr, weil diese nach einem etwaigen Sieg in der Bundestagswahl auch einen christdemokratisch dominierten Bundesrat auf ihrer Seite hätten und deshalb dort nicht mehr blockiert werden könnten wie einst der späte Kohl durch Lafontaine.

Der Verdruß der Unternehmer über Schröder wurde auch dadurch genährt, daß dieser für die gewerkschaftliche Klientel schon deshalb im Kleinen etwas tun mußte, weil er sie im Großen vor den Kopf stieß. Die Koalition führte den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ein, novellierte das Betriebsverfassungsgesetz, stellte die gesetzliche Garantie der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder her, tastete den Kündigungsschutz nicht an und gab sich auch ein bißchen - wenngleich vergebliche - Mühe, die Unterminierung der Sozialversicherung durch Billigjobs und Scheinselb-ständigkeit zu bekämpfen.

Gewiß wird auch hier nicht alles so heiß gegessen, wie es der Unternehmerprotest kocht. Die Vermehrung der Betriebsräte zum Beispiel erhöht zwar da und dort die Kosten, stärkt aber eine Instanz, mit der es die Arbeitgeber in den vergangenen Jahren in konkreten Fällen ohnehin lieber zu tun hatten als - zum Beispiel - mit den Ersten Bevollmächtigten der IG Metall und ihrem Insistieren auf dem Flächentarifvertrag.

Vor der Schlußabrechnung von Erwartung und Realisierung wollen wir schnell noch ein par Gesetze aufführen, bei denen die Regierung ihre Wahlversprechen nicht ganz vergessen hat. Netterweise übersehen wir dabei, dass auch hier fast durchgehend noch mehr in Aussicht gestellt worden war, und listen auf: Erhöhung des Kindergeldes, neues Staatsbürgerschaftsrecht, Zuwanderungsgesetz, Eingetragene Lebenspartnerschaft, ein bißchen Ausstieg aus der Atomindustrie, Prostituiertengesetz, Dosenpfand. Schauen Sie im Einzelfall nicht so genau hin. Seien Sie großzügig, loben Sie.

Motto der IG Metall

Die Bilanz ist im ganzen allerdings wohl nicht zu retten. Als dicke Brocken bleiben: ein Krieg (genauer: zwei, es gibt ja noch die Allianz gegen den Terror) und eine Arbeitslosenquote, die nicht nennenswert niedriger ist als 1998. Im zweiten Fall ist nicht der Vorwurf zu erheben, dass ein - Versprechen nicht gehalten, sondern dass es überhaupt gemacht worden ist, ohne dass die Propaganda zugleich erklärte, mit welcher Wirtschaftspolitik das erreicht werden sollte.

Peanuts

Das war jetzt wohl etwas trocken, und Sie meinen vielleicht, jetzt hätten wir es uns verdient, uns mit den Personenskandalen dieses Jahres zu befassen. Diese sind aber in Wirklichkeit langweilig. Der Sturz einer öffentlichen Person anläßlich eines individuellen Fehlverhaltens ist immer nur ein Nachvollzug: Eine Situation, die auf anderer Ebene sich schon längst angebahnt hatte, wird klargestellt.

Nehmen wir zum Beispiel - nicht aus dem Kern der rotgrünen Koalition, sondern nur aus ihrem Orbit - Gregor Gysi. Auf einer Pressekonferenz nach seinem Rücktritt datierte er die Phase nachlassenden Interesses am Tagesgeschäft und, daraus resultierend, Unaufmerksamkeit im Umgang mit Bonus-Meilen auf 2000/2001, als er nicht mehr Fraktionsvorsitzender war. Dies war nach dem PDS-Parteitag in Münster. Damals musste Gysi lernen, dass seine Partei nicht nur aus Leuten besteht, die irgendwie "ankommen" wollen, sondern auch aus solchen, die es nicht können. Oft sind es dieselben. (Die Botschaft ist aber immer noch nicht von allen erfasst. Als kürzlich die Vorsitzende Zimmer vernünftigerweise feststellte, auf Bundesebene könne ihre PDS nur Opposition sein, setzten die Parteibörsianer ihr Augurenlächeln auf.)

Oder erinnern wir uns - ganz am Anfang - an Oskar Lafontaine: Im Wahlkampf 1998 versprach er eine Linkswende und trat gemeinsam mit einem Kanzlerkandidaten auf, der einen neoliberalen Computer-Unternehmer zum Wirtschaftsminister machen wollte. Als Finanzminister redete Lafontaine sich ein, er könne gegen den Regierungschef und seinen eigenen Staatssekretär Overhaus eine nachfrageorientierte Politik machen und Bundes- sowie Europäische Zentralbank zu deren freundlicher Begleitung veranlassen. Mit anderen Worten: Er hat Junk Bonds verkauft.

Scharping allerdings hat sich todgesiegt: Die interventionsfähige, fitte und teure Truppe, die er auf den Weg brachte, sollte eben doch nicht nur einen Regimentstrottel an der Spitze haben. Noch mehr Beispiele? Genug.

Die Firma

Die Klage, dass Politiker der offiziellen Linken neuerdings wegen allerlei Lappalien behelligt werden, während die Amigo-Affäre der CSU, die Schwarzgeld-Angelegenheiten der CDU einschließlich Schreibers Waffendeal politisch ungeahndet bleiben, ist unberechtigt. In diesen Fällen handelt es sich ja nicht um enttäuschte Erwartungen, sondern um erfüllte. Die angeblichen Skandale belegen nur, dass wahr ist, was die Union immer von sich behauptet: Sie hat ein ehrliches Verhältnis zum Kapital und zur Rüstung. Diese Einheit von Reden und Handeln weckt letztlich Vertrauen.

Natürlich nicht für immer. Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, die Wut über den verlorenen Groschen und Kampagnen gegen die so genannte "Gier" der Oberen haben dieselbe Ursache: Sie entstehen auf dem stets ein wenig vibrierenden Boden einer Gesellschaft, in der kein Mensch verdient, was er bekommt, und keiner bekommt, was er verdient. Das hängt mit dem Mehrwert zusammen. Darüber vielleicht ein andermal. Georg Fülberth(Der Artikel erschien in KONKRET 9/02. LinX erhielt vom Autor die freundliche Genehmigung zum Abdruck.)

Literatur zur Bilanz der rotgrünen Koalition:

Kai Eicker-Wolf/Holger Kindler/Ingo Schäfer/

Melanie Wehrheim/ Dorothee Wolf (Hrsg.): "Deutschland auf den Weg gebracht." Rot-grüne Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Metropolis-Verlag, Marburg 2002.

Ulrich Heyder/Ulrich Menzel/Bernd Rebe (Hrsg.): Das Land verändert? Rot-grüne Politik zwischen Interessenbalancen und Modernisierungsdynamik. VSA-Verlag, Hamburg 2002.

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