Herr, send' Hirn!

Lügen, daß sich die Balken biegen, völlige Verdrehung von Begriffen, De- und Neukonstruktion der Argumente des Gegners - so funktioniert Herrschaftssicherung und Durchsetzung von Machtinteressen. Eine Binsenweisheit, sicherlich, aber in den letzten Wochen - die NATO führt Krieg gegen Rest-Jugoslawien - besonders schön nachvollziehbar. Einige Minuten Jamie Shea, Pressesprecher der NATO oder wahlweise deutscher Außenminister reichen da völlig aus. Da soll einem dann glauben gemacht werden, daß der zweitbeste Geheimdienst der Welt veraltete Karten von Belgrad benutzt und so - bedauerliches Mißgeschick - die Bombardierung der chinesischen Botschaft vorbereitet hätte (Shea hätte genauso gut von Falk-Stadtplänen, die schwer auseinander zu falten waren, sprechen können) oder, daß das Abwerfen von Uranbomben auf serbische Chemiefabriken demselben Zweck wie die Verteidigung der Spanischen Republik 1936 dient.

Erfreulich ist vor diesem Hintergrund die Erkenntnis, daß Wahrhaftigkeit und Bekennermut doch noch nicht ganz aus dieser Welt verschwunden sind. Die CSU zum Beispiel - man hätte es nicht vermutet - läßt in ihrem TV-Spot zur Europawahl eine Zeitung ins Bild rücken, auf der - schwer zu erkennen, aber immerhin - die Zeile "DER FEHLER LIEGT IM SYSTEM" zu lesen ist. Wer will da dem wie ein Parkinson-Kranker nickenden Edmund Stoiber widersprechen? Für solch glasklare Analyse nimmt man dann auch die offensichtlich in einem Joint-venture von Frank Farian, Dieter Bohlen und Franz Lambert komponierte Hintergrundmusik in Kauf, die Stoibers markiges "für ein starkes Bayern kämpfen" untermalt.

Ach, ja die bürgerliche Rechte. In Zeiten, in denen Sozialdemokraten und Grüne in atemberaubender Geschwindigkeit ihre Masken abgelegt haben, um aller Welt die darunterliegenden Kriegstreiber- und Neoliberalenfratzen zu zeigen, konnten einem CDU/CSU-Politikerinnen beinahe wie der erträglichere Teil der herrschenden Klasse - das kleinere Übel also - vorkommen. Volker Rühe etwa, der zu Zeiten der "Operation Hope" noch das Kunststück fertig brachte, auf somalischem Wüstensand auszurutschen, gibt fast einen Vorkriegssozi ab, wenn er den Kriegsminister auf das fehlende Mandat deutscher Truppen in Mazedonien hinweist.

Doch seit einigen Tagen setzt Rühe alles daran, seinen Kredit zu verspielen. Der Grund: Die flächendeckend in Kiel aufgestellten Plakatständer mit geradezu grotesk selbstgefällig 'drein blickenden CDU-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2000. Was mag nur in Rühes Oberstudienratshirn beim shooting vorgegangen sein? War es die Frage, wo und wie er Krieg führen wird, wenn Scharping das dritte Mal vom Rad fällt und es zu einer großen Koalition mit ihm als "Verteidigungs"minister kommt? Oder eher der Gedanke an das vor zwei Jahren aktuelle Wahlplakat der Kieler FDP-Politikerin Aschmoneit-Lücke - "Nimm mich!"?

Die obligatorischen 3.500 Zeichen dieser Kolumne sind noch nicht erreicht. Doch nach der Tagesschaumeldung, daß die NATO jetzt ganz offen zivile Ziele in Serbien angreift - in den Krankenhäusern der Stadt Nis fehlt mittlerweile das Wasser zum Sterilisieren von OP-Instrumenten - bleibt auch der Plan, am Stil eines autonomen Anti-Kriegs-Flugblattes herumzukritteln auf der Strecke. So etwas kann warten. Die von Scharping am Pfingstmontag erklärte Absicht zur Eskalation der NATO-Kriegsführung sollte endlich auch zu einer Eskalation des noch recht schwachen anti-militaristischen Widerstandes führen! Die zweifelsohne vorhandenen Differenzen innerhalb der Linken sollten dem nicht im Wege stehen!

(C.S.)