Aufgeblättert

"Wenn alles Lüge ist ..."

Das hat sich Marcel Reich-Ranicki nicht erhofft bei seinem zur Endlosschleife gewordenen Ruf nach dem jungen neuen Roman, der "die deutsche Literatur" am eigenen Schopfe aus dem Sumpf der selbstbezüglichen Befindlichkeiten von Schrott GmbH & Co. KG zieht. Allein, es wäre auch von Britta C. Dunker zu viel verlangt, dieses epochemachende Werk vorzulegen. Aber sie weist mit "Linda im Warenland" doch einen Weg aus der selbstgewählten Entpolitisierung dessen, was sich "junge deutsche Literatur" schimpft - oder geschimpft wird.

Man muß in diesen "finsteren Zeiten" (Brecht) schon lange suchen, bevor man - ohne sich durch eines der sattsam bekannten Ideologiepapiere der schwächelnden Linken zu wühlen - auf Sätze wie diese stößt: "konsum ist ein sohn des göttervaters kapital und seiner gattin begierde. seine zwillingsschwester ausbeutung herrscht über die großen und kleinen betriebe der welt. gut geölt schnurren die rädchen der maschinerie, heiter klingen die champagnergläser beim toast in der gutgelaunten chefetage." So einfach das klingt, so wahr ist es doch. Die Kieler Autorin liefert auf knappen 198 Seiten den Beweis für die Wahrheit(en) dieses simplen Statements. Linda Boskoop, "die kleine verkäuferin", ist ihre Kronzeugin. Einst Studentin der Kunstgeschichte hat sie der Job an der Kasse der Supermarktkette "Heaven" gänzlich absorbiert, abgesehen von den Tag- und Nachtträumen vom imaginierten Geliebten Johnny Depp und einem Ausflug in den Daily-Talk-Exhibitionismus eines gewissen "Kurt Keiser". Keine Story des Aufbegehrens gegen den umfassenden Zugriff des Kapitals auf Leib und Seele wird hier erzählt, sondern ein leises Requiem auf die Wünsche und Sehnsüchte des Menschlichen, die sich nur noch in der klingenden Münze von industrialisierten Vorstellungen (ent-) äußern können. Entfremdung total! Linda ist eins der Schäfchen, das ohnmächtig zur Schlachtbank trabt - ohne geschlachtet zu werden, weil man die Kuh, die man gewinnträchtig melkt, nicht schlachtet.
Der Schlachterei im himmlischen Warenland namens "Heaven" widmet Dunker daher auch scharfsichtige Aufmerksamkeit. Schlachtergeselle Jo Matten, der "auf dauer haltbar gemachte aufschnitt vom fleische des arbeiters"- ein treffenderes Bild für die tätige Beihilfe der Ausgebeuteten zu ihrer Ausbeutung läßt sich kaum denken, hat ein Auge auf Linda geworfen. Doch sowohl Lindas Träumerei vom Kinodeppen Johnny als auch Mattens neoliberale Wegrationalisierung setzen solcher proletarischer Liason Grenzen. So (oder so) bleiben Liebe, Glück und Sozialismus nur ein utopischer Traum. Linda trägt noch ihre Depression auf dem TV-Markt der "Kurt-Keiser-Show" zu Markte, doch es bleibt alles beim Alten. Matten versinkt im prolligen Rausch der Arbeitslosigkeit, Linda tippt sich weiter die Finger an den Kassen des Kapitals wund. Und Mr. Depp hat bessere Werbeaufträge als gerade Linda B. aus K.

Garniert wird diese traurige Geschichte aus der erbarmungslosen Warenwirklichkeit mit allerlei einleuchtendem ("zuvielisation") und wenigem überkandidelten ("weißem knollenblätterpilzbefall gleich wuchern serien in der darmflora der humanität") Wortspiel. Am Ende bleibt der Vorhang zu und alle Fragen (nach der Veränderbarkeit dessen) nach wie vor offen. Aber vielleicht eröffnet ja dennoch folgender Satz, trotz seiner vermeintlichen Hoffnungslosigkeit, eine Spur von Perspektive: "linda könnte, wenn sie wollte, aber sie will nur, was sie muß."

(jm)

Britta C. Dunker: "Linda im Warenland", agimos verlag, Kiel 1999, ISBN: 3-931903-18-4