Glosse

Scheinbar selbständig

Ob Beck oder Müller, der Tenor ist überall derselbe: Weniger Staat, mehr Eigeninitiative. Das rot-grüne Chaos, vor dem uns alle immer gewarnt haben, ist da! Sozialdemontage nicht mehr salamischeibchenweise, nein, es sind mittlerweile dicke Kloben, die von der Wurst, um die es geht, abgehauen werden. "Jede zweite Mark von Ihrem und meinem Gehalt kriegt heute Vater Staat", sagte jüngst ein ARD-Kommentator, um die Dauerwurst Deregulierung schmackhaft zu machen.

Nach der jahrelangen Bedampfung mit dem Standort-Deutschland-Opium ist der Deutsche an sich längst so benebelt, daß er solchem nicht nur am Stammtisch zustimmt. Weniger Staat, das klingt doch gut. Denn weniger Staat gleich weniger Steuern. Und daß Steuern semantisch von "steuern" kommt, weiß eh niemand mehr. Seit September und Rot-Grün in Bonn/Berlin müßte das dann ja auch heißen: "Ich muß noch meine Nachbessererklärung machen."

Wo Solidarität ein Fremdwort geworden ist, das überdies verdächtig nach Sozialismus klingt, der ja irgendwie zusammengebrochen ist, da trifft der Spruch vom Glück, dessen Schmied ein jeder selber ist, auf fruchtbaren Boden. Da hört man selbst die noch über "Sozialschmarotzer" schimpfen, die selbst keine Arbeit mehr haben, und jene nicht weniger, die nach dem Arbeitsamt nunmehr beim Sozi beschäftigt sind. Auch da angekommen wirkt die Droge "Visa - die Freiheit nehm' ich mir" noch bei manchem, der nicht bemerkt, daß er auf der Karriereleiter ein Geisterfahrer war.

Wenn sich eine ganze Industrienation "umstrukturieren" soll und so tut, als sei sie ein bedürftiges "Entwicklungsland", wenn überall Umbaugruben des des Sozialsystems klaffen, dann zählt nur noch "Eigeninitiative". Wem nichts mehr übrig bleibt, als sein Glück "selbst in die Hand zu nehmen", der kann sich auch darin noch groß fühlen. Bestes Beispiel sind sog. "Existenzgründer". Man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen. Eine Existenzberechtigung hat man nicht, man muß sie "gründen". Daß das meist eher ein Gründeln im trüben Schlamm aus prekärer Selbstausbeutung ist, fällt kaum auf, wenn man seit neuestem neben der Adresse der trotz "Entspannung auf dem Wohnungsmarkt" leider immer noch überteuerten Zweizimmerwohnung auch eine Büroadresse auf der Visitenkarte stehen hat, nebst zwei Telefonnummern - oder drei: Handys sind ja auch spottbillig geworden im Wundertütendeutschland (woran man wieder sehen kann, wie geil der freie Markt ist - immer ein Gewinn für den "Verbraucher").

Scheinbar ist man selbständig, sein "eigener Herr". Wem sollte diese Verheißung nicht gefallen? Und wenn dann auch noch die Abgaben sinken, weil auch das Rentnerpack nur noch Nullrunden dreht, dann ist man endlich befreit von all dem Sozialklimbim. Fröhlich geht's hinaus in die weite Welt des freien Marktes, der sich am besten selbst reguliert. Nur daß man in all dem Strampeln um das einzellige Glück unendlich allein geworden ist, das merkt man nicht. Auch nur Semantik: all-ein, einig nur noch mit sich selbst im privaten Konsumkosmos, selbst wenn der nurmehr aus dem Dosenbier von Aldi oder (für Besserverdienende) von der nächtlichen Tanke besteht.

(jm)