Herr, send' Hirn!

"Passion impossible - 7 Tage Notruf für Deutschland" nannte Christoph Schlingensief 1997 sein Projekt am Hamburger Hauptbahnhof. Theater auf der Straße, statt im Schauspielhaus, das Theater der Straße. Die Polizeistation am Bahnhof wurde kurzer Hand in eine Schlingensiefsche Bahnhofsmission umgewandelt, wo Penner, Arbeitslose und sonstiger "Abschaum" eine Bleibe auf der Bühne fanden, ihren Frust und ihre Kritik dem indolenten Establishment entgegen schreien konnten, und das oft sogar ziemlich künstlerisch. In einer Art Marsch der Verdammten zog Schlingensief in Polizeiuniform mit ihnen durch die Stadt. Durchs Megafon skandierten sie: "Wir wollen helfen! Helfen, helfen, helfen!" Schlingensiefs anarchisch-dadaistische Aktion brachte die Sache auf den Punkt. Hilfe gibt's nicht mehr, wenn, dann nur institutionalisiert oder als Hilfssyndrom, um von den systemischen Ursachen abzulenken. Spontane Solidarität? Für die meisten Passanten ein Fremdwort. Passion impossible! Bei der im Stil einer Benefiz-Veranstaltung inszenierten Eröffnungsgala im Schauspielhaus, die - schließlich geht der Hamburger Bürger ins Schauspielhaus, wenn da eine Premiere ist - Nadelstreifenhörnchen und Abendkleider ausverkauft hatten, fand Schlingensief dafür ein noch deutlicheres Bild. Er forderte das Publikum auf, spontan Geldspenden für die Mission auf die Bühne zu werfen. Als sich nichts tat, drohte er: "Noch drei Minuten, dann schlachte ich dieses Huhn vor euren Augen!" Erst die drohende Tierquälerei öffnete die Portemonnaies.

Die Mitleidensfähigkeit des Deutschen an sich ist gering, bzw. so selektiv, wie man an der Rampe eben ist. Zwar beklagt man gern bei Sekt und Lachs (der ja beim Aldi "so billig geworden ist, dass ihn sich selbst Sozialhilfeempfänger gelegentlich leisten können" (aufgeschnappter O-Ton, neulich in einer Kneipe) - Segnungen der Marktwirtschaft) das Elend der Welt, im Vergleich zu dem es einem trotz Sparpaket und Rentenklau doch "noch Gold" gehe. Aber damit Spendenaufrufe mehrstellige Millionen bringen, muss es schon ein Erdbeben sein. Das ereilte ausgerechnet die "türkischen Freunde". Das Muster der seltsam spontanen Hilfsbereitschaft war darob deutlich erkennbar: Schlechtes Gewissen. Hatten doch Volksgenossen in der ersten Hälfte der 90er manches Haus türkischer "Mitbürgerinnen und Mitbürger" mit Molotow-Spenden bedacht. Wiedergutmachung ist dem Deutschen immer noch gute Motivation für Mildtätigkeit. Nichts gegen Spenden für die Opfer der Naturkatastrophe. Sie können sie gut gebrauchen. Obwohl man sich fragt, warum es überhaupt eine Nachricht wert ist, wenn die Bundesregierung am Tag der Katastrophe eine "Soforthilfe" in der lächerlichen Höhe von einer Million (hoffentlich waren's wenigstens Euro) zusagt. Portokasse.

Ist das Gewissen durch die Dauereinblendung einer Spendenkontonummer beruhigt, darf man dann auch wieder kritisch nachfragen. Eine Naturkatastrophe, klar. Aber: Der Türke hat auf Sand gebaut, weiß ein ZDF-Korrespondent. Die Häuser in den Slums um Istanbul waren in äußerst marodem Zustand. Wen wundert's? Häuser aus halbwegs stabilem KWG-Wohnungsbau kann man in "Slums" eben nicht erwarten. Was aber sollen wir von solchen Meldungen lernen? Hat der Türke vielleicht nicht doch auch ein bisschen selber Schuld? Kann er als Orientale eben einfach nicht ordentlich mauern? Oder auch nur wieder Selbstberuhigung? In Deutschland wär' das nicht passiert! Dann schon lieber Voltaire: Der hatte sich über das Erdbeben in Lissabon 1755 empört, dies sei ein konterrevolutionärer Anschlag der Natur auf die Vernunft.

(jm)