Kultur

NEUES GLAS AUS ALTEN SCHERBEN im Lutterbeker

Rock-Romantik statt Revolte

Das war wohl die spannendste Frage des Abends im rappelvollen Lutterbeker: Fordern sie nochmal "Keine Macht für niemand!" oder "Macht kaputt, was euch kaputt macht!"? Nicht nur eine Frage von Revolutionsromantikern, denn wenn Revoluzzer altern, ist es immer interessant zu hören, was bleibt von den Tagen vor 20 Jahren, als sie den Soundtrack für manche Hausbesetzung lieferten. "Neues Glas aus alten Scherben", die Nachfolgeorganisation von "Ton Steine Scherben" und "Rio Reiser Band", sind in Würde gealtert, aber zur Revolte rufen sie nicht mehr auf. Gleichwohl, es gibt sie noch, Songs wie "Wir sind geboren, um frei zu sein", und auch die Fortsetzung des Satzes "Für mich heißt das Wort zum Sonntag ..." schallt aus dem Publikum noch immer wie aus der Pistole geschossen: "Scheiße!" Aber kaputt machen muss man nichts mehr - auch wenn einen noch vieles kaputt macht. Das ist indes fast immer die Liebe, nur ab und zu noch "das System".

Michael Kiessling, der Sänger, den die Scherben- und Reiser-Veteranen Ende letzten Jahres als Rio-Surrogat entdeckten, doubelt den zu früh Verstorbenen perfekt, ja wächst mit seinem rauchigen Rockorgan, in dem sich Tom Waits mit Gilbert Becaud trifft, oft über ihn hinaus. Aber die Blickrichtung ist eine andere. Hatte Rio in den Wirrnissen der Liebe die des Systems kodiert, suchen Kiessling und seine Neuglas-Kollegen die Utopie im privaten Glück. "Wir haben nichts zu verlieren als unsere Angst", schmetterten die Scherben, Angst wovor, war klar: vor den Unterdrückern. Bei Kiessling hört sich das romantisch verklärt an, und er meint eher die Schmetterlinge im Bauch als den Pflasterstein in der Hand. "Wolfgang Petri als Volksrevolutionär", unkt einer aus der Fraktion der Berufsjugendlichen im Publikum. Und in der Tat streift Kiesslings melancholischer Balladenton zuweilen die Grenze zum Kitsch, ohne sie freilich zu überschreiten.

Denn auch wenn die Neuglaser die revolutionäre Attitüde der Scherben abgelegt haben und aus der Faust der ins Publikum gereckte Zeigefinger geworden ist, wer will, kann in einem Vers wie "Ich versetz' die ganze Welt für dich" mehr als bloß ein Liebeslied sehen. Das Private ist politisch, das gilt irgendwie immer noch. Und Kammerspiele wie "Zauberland ist abgebrannt und brennt noch lichterloh", wo die Gitarren düster dräuen und Drummer Funky Götzner die Schlagzeugbatterie verläßt, um mit der großen Proletkult-Trommel vorne an der Bühne mitzumischen, zeigen deutlich, dass der Untergrund noch brodelt. Die Ambivalenz zwischen grüblerischer Selbstbespiegelung und kämpferisch eingeforderter Utopie macht hier neuen Sinn.

Die neue Jugend jedenfalls bedenkt das Neue Glas mit ähnlicher Begeisterung wie die vor 20 Jahren. Vor der Bühne wird barfuß gepogot und Head gebangt, was das Zeug hält. Massen in Bewegung - das schaffen die zu neuem Glas gekitteten Scherben ganz wie einst.

(jm)