Internationales

Weltwirtschaftskrise:

Rettungsanker bald durchgerostet?

"Wenn Brasilien fällt, gehen alle in die Rezession", menetekelte Anfang Oktober in Hongkong ein Analytiker eines großen US-amerikanischen Investmenthauses. Einige Tage später bekam der lateinamerikanische Riese einen 41,5-Milliarden-Dollar-Hilfskredit des internationalen Währungsfonds mit der berüchtigten Roßkur im Gepäck: Die Zinsen wurden in schwindelerregende Höhen getrieben und strangulierten die lokale Ökonomie, und die Regierung verpflichtete sich zu einem Spar- und Privatisierungsprogramm, dessen Folgen wie üblich die Lohnabhängigen, Rentner und Armen zu tragen haben. Dieser Tage ist der "Erfolg" der Maßnahmen zu beobachten: Weil die brasilianischen Gewerkschaften und Bundesstaaten sich das Fell nicht im gewünschten Maße über die Ohren ziehen lassen, purzeln die Aktienkurse panikartig, suchte an einem einzigen Tag eine weitere Dollar-Milliarde "Fluchtkapital" das Weite.

Bleibt noch China als nun wirklich letzter Rettungsanker. Ein ganzes Jahr fragten sich Ostasiens Wirtschaftskommentatoren fast wöchentlich bang, wie lange Yuan und Honkong-Dollar noch stabil bleiben. Doch ihre Befürchtungen traten bisher nicht ein. Während rundum die Währungen abgewertet wurden, konnten die Zentralbanker in Peking und seiner Sonderverwaltungsregion die Kurse ihrer Devisen gegen sporadischen Spekulationsdruck verteidigen. Eine neue Abwertungsrunde wurde vermieden, und die Krisenländer konnten zumindest durch vermehrte Exporte Schlimmeres verhindern. Würde auch der Yuan billiger, so wäre ein krisenverschärfender Preiskrieg die unmittelbare Folge. Auch als Importeur stützt das Land der Mitte derzeit noch die Weltwirtschaft. Profitiert wird davon nicht zuletzt in Deutschland, das 11% seiner Exporte in die Region schickt und die Verluste im Handel mit den Krisenstaaten z.T. im Chinageschäft wettmachen konnte. Angetrieben wurde die Nachfrage nach Importgütern von einem noch immer beachtlichem Wirtschaftswachstum, das nach offiziellen Angaben 1998 bei 7,8% lag. Damit ist China die weltweit am schnellsten wachsende Volkswirtschaft.

Doch auch in Deng Xiao-pings Musterländle verdüstert sich der Konjunkturhimmel. Anfang des Jahres brach in der südchinesischen Boom-Provinz Guangdong das zweitgrößte Investmenthaus des Landes zusammen. Die internationale Finanzwelt reagierte überaus nervös. Bis zuletzt hatten die ausländischen Anleger, unter ihnen auch Commerzbank und Dresdner Bank, gehofft, die Regierung würde für die Schulden des provinzeigenen Unternehmens geradestehen. In Peking dachte man jedoch nicht daran und übergab die Sache den Konkursrichtern. Die über hundert staatseigenen Investmenthäuser, die im In- und Ausland Kredite für Investitionsprojekte einwerben, spielen eine gewichtige Rolle in Chinas Wirtschaftsplanung. Der durch den jüngsten Zusammenbruch hervorgerufene Vertrauensverlust, den die Kommentatoren von FAZ bis "Financial Times" beklagen, könnte sich also dämpfend auf die weitere Entwicklung auswirken.

Aber das ist nur eines von vielen Problemen, die Chinas Politikern derzeit die Stirn in Sorgenfalten legen. Finanzminister Xiang Huaicheng gab Anfang des Jahres überraschend eine ungewöhnlich pessimistische Einschätzung der zu erwartenden wirtschaftlichen Entwicklung ab: "Die wirtschaftliche Situation im Inneren wie im Äußeren", zitieren ihn Hongkonger Zeitungen, "läßt 1999 wenig Raum für Optimismus". Nach wie vor schwache Inlandsnachfrage und schlechte Ergebnisse der staatseigenen Betriebe ließen nach Xiangs Worten negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum erwarten. Das Bruttosozialprodukt wächst zwar noch immer beachtlich schnell, doch 1998 war es im fünften Jahr in Folge zurückgegangen. Anfang der 90er hatte es noch Probleme wegen Konjunkturüberhitzung gegeben.

Xiang rät also zur Vorsicht: "Die asiatische Finanzkrise verschärft sich, und in der Weltwirtschaft nehmen Unsicherheit und Instabilität zu. Unsere Exporte werden in diesem Jahr kaum noch zunehmen, wenn sie nicht gar zurückgehen. Im Inland haben wir weder das Problem der Überproduktion noch das der Staatsbetriebe gelöst."

Bereits im vergangenen Jahr hatten die Exporte der Volksrepublik stagniert. Während in den asiatischen Nachbarländern die Märkte für chinesische Waren zusammenbrachen, brachte verstärkte Nachfrage in Europa und Nordamerika die Rettung. Insgesamt wurden Güter im Werte von 182 Mrd. US-Dollar ausgeführt. Die Einfuhren gingen hingegen um 3,8% auf 137 Mrd. US-Dollar zurück, so daß sich unterm Strich in der Handelsbilanz ein Rekordüberschuß ergab.

Die staatseigenen Betriebe, nicht zuletzt die traditionelle Schwerindustrie, bereiten den Pekinger Führern bereits seit Jahren erhebliche Kopfschmerzen, fahren sie doch zumeist nur rote Zahlen ein. Von Januar bis November '98 waren es nach Angaben des staatlichen Büros für Statistik 143,9 Mrd. Yuan, d.h. rund 30 Mrd. DM. Die Gewinne dieses Sektors sind im gleichen Zeitraum um 22,1% zurückgegangen. Vor allem die Textil- und Kohleindustrien hätten sehr schlechte Ergebnisse, so der Sprecher der Statistikbehörde, Ye Zhen.

Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich ein enormes soziales Problem. Die Angestellten der fraglichen Unternehmen hängen von ihnen nicht nur mit ihrem Einkommen ab, sondern wohnen oftmals auch in betriebseigenen Wohnungen. Auch für die Rente sorgt der Betrieb. So ist es denn keine Seltenheit, daß die häufigen Streiks und Demonstrationen wegen nicht gezahlter Löhne gelegentlich aktive Unterstützung der mitbetroffenen Rentner bekommen.

Das Mittel der Regierung zur Lösung dieser Krise heißt in den meisten Fällen Privatisierung, was natürlich nicht ohne Massenentlassungen abgeht. Aus der Stadt Shenyang, einem Schwerindustriezentrum im sog. Rostgürtel im Nordosten des Landes, berichtete die "South China Morning Post" im Sommer letzten Jahres, daß man dort auf ein besonderes Angebot für Investoren verfallen sei: Staatseigene Betrieb, deren Nettowert auf Null oder gar negativ eingeschätzt wurde, werden zum symbolischen Preis von einem Yuan (ca. 20 Pfennig) angeboten. Käufer bekommen Erleichterungen in Bezug auf Entlassungen, Schuldenrückzahlungen und Steuern. In der Stadt am Fluß Hun sind von 1,3 Mio. Arbeitern und Angestellten 380.000 (28,9%) arbeitslos.

Einige chinesische Sozialwissenschaftler warnen schon vor erheblichen sozialen Spannungen und Unruhen, sollte das Heer der Arbeitslosen weiter angefüllt werden. Im Oktober veröffentlichte die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua einen Bericht, nachdem in den Städten die Arbeitslosenrate bereits bei 8% liegt, doppelt so hoch wie der offizielle Wert. Nicht einbezogen sind in diese Rechnung jene ca. 120 Mio., die auf der Suche nach Arbeit durchs Land ziehen und als "Illegale" in den Städten wohnen, von keiner offiziellen Statistik erfaßt. Schließlich gibt es auf dem Land nach verschiedenen Angaben 100 bis 160 Mio. Arbeitslose.

Die Frauen haben, wie im richtigen Kapitalismus, den größeren Teil der Last zu tragen: Laut Statistik des Arbeitsministeriums stellten sie 1997 61% der Arbeitslosen, obwohl nur 39% der Lohnabhängigen weiblich sind. Besonders hart sind ältere Frauen ab 35 betroffen, da sie trotz jahrelanger Arbeit meist keine solide Berufsausbildung haben und das während der Kulturrevolution in der Schule Versäumte nie haben aufholen können. Sie sind die ersten, die entlassen werden, und die letzten, die eine neue Stelle finden, heißt es in einem Bericht in der "New York Times" über ein UN-Ausbildungsprogramm für diese Personengruppe in der Hafenstadt Tianjin.

Bisher hat die Regierung darauf gesetzt, mit markt-radikalen Reformen ein nachhaltig hohes Wirtschaftswachstum stimulieren zu können, und damit zumindest dem größeren Teil der in den alten, staatseigenen Industrien und der Landwirtschaft "Überflüssigen" wieder Beschäftigung bieten zu können. Doch dafür, so meinten die Regierungsfachleute bisher, sind mindestens 9% jährlichen Wachstums notwendig, ein Wert der im Augenblick kaum erreichbar scheint.

Angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen verwundert auch Xiangs Sorge um die Inlandsnachfrage nicht. Die ist derzeit so gering, daß Deflation herrscht und sich die Lagerhallen mit unverkäuflichen Gütern füllen. Zwar sprechen die offiziellen Zahlen davon, daß das Einkommen in den Städten um 6,8% auf durchschnittlich 5.454 Yuan (etwas über 1.000 DM) gestiegen ist. Doch ist die Situation auf dem Land, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt, sicherlich deutlich schlechter, da der wirtschaftliche Aufschwung sich v.a. in den Küstenregionen und entlang der großen Flüsse abspielt und weite Teile des großen Landes bisher unberührt ließ. Außerdem berücksichtigen diese Zahlen sicherlich nicht die vielen Millionen, die ohne Genehmigung in den Städten wohnen und zumeist mit den schlechter bezahlten Jobs ihr Leben fristen.

Um dem drohenden Abrutschen in eine allgemeine Krise zu entgehen, legte die Pekinger Regierung bereits im letzten Jahr ein staatliches Investitionsprogramm auf, finanziert durch wachsende Verschuldung. Da das Land bisher eine vergleichsweise geringe Staatsverschuldung hat, und andererseits die private Sparquote hoch ist, gehen Beobachter davon aus, daß die Regierung keine Schwierigkeiten haben sollte, am heimischen Markt weitere Anleihen aufzunehmen. Finanzminister Xiang erwartet, daß die Maßnahmen im ersten Halbjahr '99 greifen werden. Gleichzeitig warnt er aber davor, daß schon im zweiten Halbjahr wirtschaftliche Abkühlung folgen könnte, wenn es nicht gelingt, private Investitionen anzustoßen.

Xiangs pessimistische Warnungen kamen nur wenige Tage, nachdem das Pekinger Büro für Statistik vielversprechende Zahlen veröffentlicht hatte. Demnach war das Wachstumsziel von 8% nur knapp verfehlt worden. Die Wirtschaft habe, so Chefstatistiker Ye Zhen, im zweiten Halbjahr '98 deutlich angezogen, so daß sein Büro für das kommende Jahr mit einer stetigen Verbesserung rechne. Die meisten Beobachter halten die Zahlen der offiziellen Statistik allerdings für nicht sehr zuverlässig. So wundert sich Jasper Becker von der "South China Morning Post" z.B. über den angegeben Umfang der ausländischen Direktinvestitionen. Ye beziffert sie auf 54 Mrd. US-Dollar für 1998, womit das Soll erheblich übererfüllt worden wäre. Becker macht nun die Rechnung auf, daß zusammen mit dem Plus in der Handelsbilanz von immerhin 45 Mrd. US-Dollar die Reserven ausländischer Devisen damit um rund 100 Mrd. US-Dollar zugenommen haben müßten. Dem scheint aber nicht so zu sein. In Pekings Schatullen befindet sich noch immer in etwa die gleiche Summe von ca. 140 Mrd. US-Dollar, wie zwölf Monate zuvor. Kann es sein, fragt Becker also, daß die Zahlen geschönt sind? Immerhin seien in den vergangenen Jahren über 80% der ausländischen Investitionen aus benachbarten Ländern gekommen, und es sei schwer zu glauben, daß diese Investoren nicht von der Krise getroffen seien.

Andere Beobachter weisen auf die nur sehr geringe, in einigen Provinzen gar negative Zunahme der Stromproduktion hin. Mancher geht angesichts dieser Ungereimtheiten davon aus, daß Chinas Wirtschaft im zurückliegenden Jahr nur um knapp 4% gewachsen ist. Das hieße, daß das Riesenland bereits weiter, als bisher zugegeben, in den Sog der Krise seiner Nachbarn geraten ist.

(wop)