Aufgeblättert

(Nicht nur) Manager-Sorgen

Sten Nadolny, bekannt geworden durch seinen Bestseller "Die Entdeckung der Langsamkeit", hat ein neues Buch vorgelegt. Wer allerdings, die Erinnerung an die Biografie des Seefahrers, Menschenfreunds, Gouverneurs und Entdeckers John Franklin im Hinterkopf, eine Ruhe ausstrahlende epische Erzählung erwartet, wird enttäuscht sein.

Im neuen Buch geht es gehetzt zu. Genauer: Der Protagonist ist gehetzt, von Unrast getrieben auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Den Leser hingegen erwartet ein amüsantes Spiel mit den Erzählebenen und Perspektiven. Bahnfreunde kommen mit den Beschreibungen zahlreicher Bahnhöfe, besser Bahnhofsbaustellen des Jahres '96, auf ihre Kosten.

Ole Reuther macht sich auf die Reise. Er kauft sich eine Netzkarte der Bundesbahn, um für einen Monat kreuz und quer durch die Republik zu reisen. Reuther will ausspannen, mit sich selbst ins Reine kommen. Schon einmal hatte er eine solche Fahrt angetreten. Damals, im Jahre 1976, war die Bundesrepublik noch schlanker und Reuther auch. 76 zog er aus, die Welt zu erobern, sich vor seinem Examen zu drücken, und strotzte vor Jugend und Selbstbewusstsein. Wie ein Schwamm sog er alle neuen Eindrücke und Landschaften in sich auf. Mit der Naivität eines spät erwachsen gewordenen Studenten jagte er dem Abenteuer - auch dem des anderen Geschlechts - nach.

Aber das war vor 20 Jahren. Ein halbes, zielloses aber erfolgreiches Berufsleben und die Ehe mit Judith lagen dazwischen. Jetzt hat er einen Bauch angesetzt, ist gerade einen einträglichen Job bei der EU-Kommission in Brüssel los und hat seine einzige Tochter verloren. Durch eigene Schuld, wie er meint. Ausgerüstet mit Laptop und Revolver, Diktiergerät und Handy, einer Flasche Whiskey und reichlich Zigarren sowie ausreichend Notizheften verlässt er das Haus. Das Fahrtziel bestimmt wie einst - Nadolny knüpft an sein früheres Werk "Netzkarte" an - der Zufall. Irgendwo zwischen Frankfurt/Oder und Salzach, Berlin und Colombo hofft er sich wiederzufinden. Aber das ist nicht so einfach. Dicke Schichten Manager-Schulungs-Optimismus müssen zunächst durchbohrt werden.

Reuther notiert wie besessen: seine Eindrücke, seine Selbstvorwürfe, seine unter der Maske des Erfolgreichen verborgenen Ängste und Unsicherheiten. Nachts plagen ihn schreckliche Alpträume, wilde Kreaturen verfolgen ihn durch fantastische Landschaften. Tagsüber fühlt er sich beobachtet und verfolgt. Er betritt zum ersten Mal den "Osten", wo er zuvor zwar ganz ordentliche Spekulationsgeschäfte gemacht, aber immer nur "Vertreter" hingeschickt hatte. Beiläufig verwundert registriert er, dass dort auch Menschen leben.

Nach einigen dramatischen Zuspitzungen kommt Reuthers Heilung voran. Eine in einem Hotel entwendete Bibel scheint daran nicht ganz unschuldig. Nachdem er einer Aktionärsversammlung in Frankfurt (Bankopolis) die frohe Botschaft - natürlich managergerecht aufbereitet - gebracht hat, begibt er sich geläutert auf die Heimreise zu seiner Judith in Berlin. Doch da kommt Unvorhergesehenes dazwischen. In Magdeburg hat er noch eine Verabredung ...

Nadolny versteht es immer noch, seine Leser zu fesseln. Unaufgeregt erzählt er eine spannende Geschichte und legt im Vorübergehen die Psyche eines Menschen bloß. Ganz nebenbei können Macht- und Apparat-Menschen manches über sich und ihre verlorenen Träume lernen.

(wop)

Sten Nadolny: Er oder ich, Piper-Verlag 1999, 38,50 DM.