Eine Zeitreise zum 1. Mai

Ich war dieses Jahr nach langem wieder bewusst auf einer Mai-Demonstration. Leider ein total verregneter Tag. Die ver.di-Jugend Kiel/Plön hatte sich an den Vorbereitungen beteiligt, wir hatten Brötchen belegt und Schautafeln gefertigt zu den Themen Jugendarbeitslosigkeit in Kiel, Her mit dem schönen Leben, GATS, Arbeitsbedingungen bei Markenfirmen und EU-Armee, bei letzterem hat uns die SDAJ unterstützt. Aber los ging es mit einer Regen-Demo vom Wilhelmplatz. Schon auf dem Hinweg durchkreuzte mein Weg den eines Rolli-Fahrers. Ich musste mir von dem älteren Herrn anhören, wie unnütz Gewerkschaften sind und dass seine nie etwas für ihn getan hätte. Ohne Auftakt startete der Zug - ein Schweigemarsch durch die Stadt. Vor mir schleppte die Alo-Ini “den Arbeitslosen” auf einem Holzgestell und neben mir mühte sich ein PDSler mit schweren Stöcken ab, weil er niemanden fand, der ihm beim tragen half. Also bot ich ihm an, seinen Spruch mitzutragen.

Unter dem schweren PDS-Transparent (es war ein rotes natürlich), schweiften meine Gedanken schon bald ab. Meine Gedanken sangen immer wieder das Lied “Ich trage eine Fahne und diese Fahne ist rot. Es ist die Arbeiterfahne, die Vater trug in der Not. Die Fahne ist niemals gefallen, so oft auch ihr Träger fiel ...” Zu sehr wurde uns dieser Text eingehämmert, dass ich ihn noch im Schlaf aufsagen kann. Damals am 1. Mai war es für alle Pflicht, an den Kundgebungen teilzunehmen. In der Schule wurde der Tag lange vorbereitet. Wir sollten uns klassenweise sammeln, in der Gruppe hingehen und auch im Block demonstrieren. Die Schulklassen, die Betriebsbrigaden, die Partei ... Alle hatten was vorbereitet. Jeder Betrieb, ob Kraftbetrieb für Landtechnik, Kombinat Industrielle Mast oder das Mischfutterwerk, hatte einen Wagen geschmückt mit seinen betriebstypischen sozialistischen Errungenschaften. Die Bauern kamen mit geschmückten LPG-Traktoren. Von den Schulen und Betrieben aus ging es dann zum zentralen Marktplatz, wo die Kundgebung stattfand. Redner waren der Ortssekretär der SED, BGLer (=Betriebsgewerkschaftsleiter des FDGB) und der Bürgermeister (SED-Mitglied).

Wehe dem, der meinte, an diesem Tag nicht erscheinen zu müssen. Zu Haus Gebliebene hatten am nächsten Tag vor dem Kaderleiter ihres Betriebes zu erscheinen, mussten Rechenschaft ablegen über ihr Fehlen am Kampf- und Feiertag der Werktätigen, wurden abgemahnt.

Weiß ich warum, ich wollte nicht mit meiner Schulklasse zum 1. Mai gehen, sondern ging zusammen mit meinem Vater. Wir gingen etwas abseits, aber so, dass unsere Anwesenheit von Klassenlehrerin und KfL-Leiter registriert wurde. Die Redebeiträge kommentierte er mir auf seine Weise. Dennoch kam ich nicht darum herum und wurde am nächsten Tag vor der Klasse von der Pionierleiterin vermahnt für das unkollegiale Verhalten. Die Klasse geht zusammen hieße eben nicht, dass einige laufen wo sie wollen. Auch hatte ich weder die weiße Bluse noch das blaue Halstuch der Jungpioniere getragen. Ein Käppi besaß ich ohnehin nicht.

Hier in Kiel war ich nun ganz freiwillig zum 1. Mai gekommen. Die Redner hießen hier Betriebsrätin, Bundesjugendsekretär und Jugendauszubildendenvertretung. Bedroht von der Arbeitslosigkeit und dem Sozialabbau. Nach den Wortbeiträgen spielte das Orchester auf der Bühne nun zur Begleitung “Brüder zur Sonne zur Freiheit”. Auch diese Melodie ist mir wohl vertraut. H. vom Antikriegsbündnis sang lauthals und als einziger den Text und sang auch die Strophen, die nicht mehr begleitet wurden. War ich wieder in der Vergangenheit? Als mir dann aber Norbert Gansel über den Weg lief, der sich hierher getraut hatte, wusste ich wieder wo ich war und verteilte noch unsere restlichen keksartigen Ausbildungsplätzchen.

(Daniela Grant, ver.di-Jugend Kiel/Plön)