Die Uhr läuft: Am 1. Juni soll auf dem Sonderparteitag der SPD
im Neuköllner Hotel Estrell über die „Agenda 2010“, das am 14.
März von Bundeskanzler Schröder formulierte Regierungsprogramm,
entschieden werden. In einem unter der konservativen Regierung Kohl nicht
gekannten Ausmaß sollen die Sozialversicherungen geknackt und die
abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen zur Kasse gebeten werden.
Die Regierung plant den bisher schärfsten Angriff auf die Sozialsysteme:
• Kürzung des Arbeitslosengeldes:
Beschränkung der Bezugsdauer bei unter 55jährigen auf höchstens
zwölf Monate, bei über 55jährigen höchstens 18 Monate.
• Abschaffung der Arbeitslosenhilfe:
Nach 18 bzw. 12 Monaten Arbeitslosengeld gibt es nur noch Unterstützung
auf Sozialhilfeniveau.
• Ausstieg aus der Beitragsparität in der Krankenversicherung:
Die Versicherungsbeiträge für das Krankengeld sollen allein
den Beschäftigten aufgebürdet werden.
• Höhere Zuzahlungen:
Die Leistungen der Krankenkassen werden weiter zusammengestrichen.
Das bedeutet höhere Zuzahlungen für Medikamente und Behandlungen.
Selbst für Arztbesuche sollen Gebühren kassiert werden.
• Aufweichung des Kündigungsschutz:
Kleinbetriebe bis fünf Beschäftigte sollen künftig in
unbegrenzter Zahl befristete Stellen schaffen können, ohne dass dadurch
der Kündigungsschutz greift. Alter und Dauer der Betriebszugehörigkeit
soll bei betriebsbedingten Kündigungen kein verpflichtendes Schutzkriterium
mehr sein.
Weiterhin gibt es eine Reihe von „Experten“vorschlägen, vor allem
aus der Rürup-Kommission: Reduzierung der jährlichen Rentenanpassung,
Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge für Rentner, Besteuerung
der Renten oder auch die Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre.
Nicht zuletzt droht Schröder mit massiven Einschränkungen des
Arbeits- und Tarifrechts: Schließen die Gewerkschaften nicht mehr
'betriebliche Bündnisse mit den Unternehmern' als bisher, werden die
Gesetze geändert.
Dann sollen zukünftig Betriebsräte, die nicht streiken dürfen,
Tarifverträge abschließen können.
Wollen wir uns das bieten lassen?
Schröder setzt durch die Drohung mit der Vertrauensfrage für
sein Regierungsprogramm SPD- und Gewerkschaftsmitglieder unter Druck. Unternehmer
und FDP/CDU-Spitzen unterstützen ihn gegen die innerparteiliche Kritik.
Sie gehen davon aus, dass nur eine SPD-geführte Regierung Sozialabbau
bei der Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen kann, ohne dass es zu
Unruhe und Widerstand kommt.
Wir fragen: Was ist eine SPD noch für uns wert, die solche Maßnahmen
durchsetzt? Machen sich die Gewerkschaften nicht überflüssig,
wenn sie sich nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wehren?
Schröder nennt die „Agenda 2010“ eine „Reform zur Rettung des
Sozialstaates“. In Wahrheit ist sie der Versuch, den Sozialstaat abzuschaffen.
Von Helmut Schmidt über Helmut Kohl gab es reihenweise Sozialkürzungen,
die immer wieder einen Wirtschaftsaufschwung herbeiführen sollten.
Keine dieser „Reformen“ hat Arbeitsplätze geschaffen – im Gegenteil:
die Arbeitslosenzahlen steuern seit 20 Jahren jedes Jahr auf neue Rekordzahlen
zu.
Dies dürfen wir uns nicht bieten lassen: Zum Schutz der Existensbedingungen
der arbeitenden Menschen; aber auch zum Schutz der Gewerkschaften selber!
Der ver.di Bezirk Herne hat richtig festgestellt:
„Wir wissen es aus der eigenen Geschichte: Immer wenn in Deutschland
das Existenzrecht freier Gewerkschaften in Frage gestellt wurde, war dies
stets mit einschneidenden Veränderungen in der Lage aller arbeitenden
Menschen verbunden. Ebenso hat es sich immer als falsch erwiesen, wenn
die Gewerkschaften in entscheidenden Situationen Zurückhaltung geübt
haben.“ (Schreiben vom 17. März 2003)
Müssen wir die SPD retten?
Viele Kolleginnen und Kollegen fragen sich, ob über den Protest
gegen die „Agenda 2010“ nicht auch die Regierung selbst stürzen könnte
und danach alles noch viel schlimmer kommt – unter Stoiber, Merz, Merkel,
Westerwelle und Co.. Tatsache ist: diese Regierung ist, auch wenn die Gewerkschaften
sich ihr unterordnen, nicht zu retten. Die Wahlen der letzten sechs Monate
haben dies belegt (Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein). Die Wähler,
gerade ArbeiterInnen, Angestellte und im besonderen Maß GewerkschafterInnen,
laufen der SPD in Scharen davon.
Der Versuch der SPD, in der „Neuen Mitte“ anzukommen, ist kläglich
gescheitert: Seit der Wahl 2002 schlagen der SPD und den Gewerkschaften
zum Teil der blanke Hass dieser „Neuen Mitte“ entgegen: In der Presse,
im Radio und sonntäglich bei Sabine Christiansen. Spätestens
in drei Jahren wird es diese Regierung nicht mehr geben – aber sie hat
den Systemwechsel vollzogen, an dem die Konservativen anknüpfen können.
Sozialabbau schafft keine Jobs, auch wenn die SPD dies behauptet!
Zeit zum Handeln!
Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Am 1. Juni werden in Berlin die Weichen
gestellt. Wir müssen Widerstand leisten:
• Widerstand gegen die geplanten Einschnitte zur Verteidigung der ohnehin
schon abgesenkten Standards,
• Widerstand im Namen der Kinder und der Jugendlichen, die um Bildung
und Ausbildung, um Arbeitsplätze und eine soziale Perspektive betrogen
werden.
Der sozialpolitische Angriff ist nur abzuwehren, wenn die Interessen
der Betroffenen von den Gewerkschaften gebündelt und zusammengeführt
werden:
• Der DGB und seine Einzelgewerkschaften sollten die von ver.di geplante
Demonstration am 17. Mai in Berlin unterstützen und ihre Mitglieder
zur Teilnahme aufrufen.
• Alle Sozial- und Wohlfahrtsverbände, die ihrem Protest Ausdruck
geben wollen, müssen eingeladen werden.
• SPD-Mitglieder, die sich kritisch zu den Plänen ihrer Führung
äußern, müssen unterstützt und ermuntert werden.
Wir unterstützen diesen Aufruf:
Erstunterzeichner: Lothar Nätebusch, Vorsitzender IG BAU Berlin – Peter Vollmer, IG Metall, Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt – Günter Triebe, IG Metall, Betriebsrat Otis – Ulrich Peter, Vorsitzender Fachgruppe Kirche/ver.di Berlin-Brandenburg – Vorstand Ortsverein Hamburg/ver.di Fachbereich Medien Kunst Industrie – Eberhard Lindgens, GEW, Mitglied im Personalrat Schöneberg-Tempelhof – Dr. Irmtraud Schlosser, GEW – Bodo Zeuner, GEW, Jochen Gester (IG Metall), Andreas Hesse (ver.di) und Stefan Müller (IG Metall) für die Redaktion „berlin von unten“
Zahlreiche Betriebsräte und Gewerkschafter, hauptsächlich aus Berlin und Brandenburg, aber auch aus dem übrigen Bundesgebiet haben sich dem Aufruf zwischenzeitlich angeschlossen.
Wir rufen auf zur Demonstration am 1. Juni 2003 vor dem SPD-Sonderparteitag
(Hotel Estrell)