Geschichte

"Meine Wende"

Subjektive Rückblicke auf einen Zusammenbruch - 1. Teil

In diesen Tagen jähren sich zum 10. Male jene Ereignisse, die im Oktober/November 1989 die sog. "Wende" in der DDR herbeiführten und in deren Folge der gesamte europäische "real existierende Sozialismus" Anfang der 90er kollabierte. In fast allen bürgerlichen Medien sind daher Rückblicke zu lesen, meist in der herablassenden Sprache der Sieger, zuweilen auch kritischer. Zu Wort kommen dabei v.a. die "betroffenen" DDR-BürgerInnen und die Protagonisten der westlichen Politikerelite, die als Architekten der Neu(un)ordnung nach dem Zusammenbruch gelten.

Wenig beachtet wird bei diesen Rückblicken die west-deutsche Linke. Indes, auch für sie setzte mit der "Wende", nicht anders als für die DDR-BürgerInnen, ein tiefgreifender Wandlungsprozess ein. Noch heute dürfte es schwer sein, innerhalb der Linken einen Konsens darüber zu finden, wie der Herbst '89 und seine Folgen zu beurteilen und zu bewerten sind. Dennoch: Wir machten uns damals Gedanken, die oft verbunden waren mit dem Zusammenbruch einer politischen Identität.

Was bleibt von der "Wende" in der heutigen Linken der alten Bundesländer? Darüber ließen sich Abhandlungen schreiben, Interviews führen &c. pp. Wir versuchen ab dieser Ausgabe einen anderen Weg des Rückblicks und der Reflexion - einen sehr persönlichen. "Meine Wende" will zeigen, wie Linke damals reagierten - und heute darüber denken, anhand von Erlebnissen, Eindrücken und Momentaufnahmen. Der dahinter stehende Gedanke ist, dass sich historische Ereignisse oft in jenem Vorläufigen, nie Revidierten, weil einfach im täglichen Kampf für das Überleben der sozialistischen und kommunistischen Idee Vergessenen deutlicher spiegeln als in Analysen ex post. Persönlich ist das insofern, als nur eine subjektive Position sichtbar wird, nicht aber objektive Bewertung. Aber die Hoffnung ist, dass sich aus diesen subjektiven Facetten mosaikhaft ein objektives Bild fügt, das in bloß analytischer und "historisch korrekter" Rückschau nicht zu gewinnen wäre. Zugegeben: Das ist ein Ansatz, der gerade wegen seines sehr persönlichen, "Nabel schauenden" und daher nicht wissenschaftlich-analytischen Ansatzes bei manchen Linken auch heute noch verpönt ist - vielleicht zu Recht. Snapshots also aus "Wendezeiten", manchmal Blitzlichter, die ein Kern Wahres beleuchten, vielfach vielleicht auch Unterbelichtungen. Wir dokumentieren sie - in lockerer Folge - dennoch, oder gerade deswegen.

Den Beginn macht LinX-Autor Jörg Meyer mit einer 1989 entstandenen literarischen Verarbeitung einer letzten Reise ins geteilte Berlin im August '89 und der damals gerade erschienenen LP "Haus der Lüge" von den "Einstürzenden Neubauten". Beiträge von euch, den LeserInnen, zur Reihe "Meine Wende" sind willkommen.

Eure LinX-Redaktion


Neubau

Wie spät mochte es sein? Das sagen; man könnte, aber - es war am Vor- wie am Nachmittag stets selbes fades Licht des Hinterhofs, zersiebt durch aluminierte Streifen von Jalousieflügelchen. Denn dort, Berlin (West), war es, August '89, eine Woche lang über schwülen 32 Grad, fast körperwarm, über jahrzehntenem EndZeitGefühl, unter dem Grollen metallischer Vulkane tätig, von fahrplanmäßigen Eruptionen der S-Bahnen im rostigen Schatten der Yorck-Brücken, kaum 300 an Metern abentfernt, da hörte ich erstensmal die Neubauten näherrücken. Herab pumpten sie rhythmisch von den einsinkenden Olympen der GropiusStadt und fest im Sand ruhendem BetonMonster 'Großbelastungskörper', wrangen Schall aus dieser BlechWelt, heraus in mein hitziges Vakuum, das begierig sog. Eine Woche StahlStadt, die als einzige wirkliche SehensWürdigkeit eine Mauer quer durch hat, die Ögyr & ich hochleben ließen in jenen Tagen.

Vom GroßBelastungsKörper schlugen wir uns in die Büsche, ab von einer Straße, die wenig tiefer in den Dschungel einer Kleingartenkolonie 'PlatzAnDerSonne' einsickerte, dort ein Delta des Motorenkolbenlärms in das Meer summender Bienen und mit den Blättchen plappernder SpätsommerBlüthen mündend. Am Deichfuß des Straßenhanges eintraten wir in den 'ungeheuren' SchienenWald des Gleisdreiecks zwischen Monumentenbrücke und dem gusseisernen Museum für Verkehr, zwischen beräderten Menschen. Wie wir uns also durchstrüppten, hörten wir mit schwindender Entfernung sich abhebelnd von, nein, aus dem Rauschen RostRhythmus. Wir striffen vorbei an Zwei, die klöppelten neugebauernd auf zwei Fässern dumpfe Echos. Neubauten.

O.T. mergelte der Saphir aus den schwarzen PlasteSteinBrüchen; zurück zurück zurück, 60 bpm von von der Hitze aus den Betonschößen der Autobahn Berlin-Hamburg quellenden Bitumenlamellen.

Die lotrechte Parallelität zweier über 10 Meter langer Flurschäden, diesmal in lichterem, da gähnenderem Hinterhof, zu unseren Büros, die in den folgenden Tagen, denn das Konzert der Neubauten näherte sich und nährte uns, erleuchtet waren, wie, wenn es dämmert, die Türme der Neubauten in den Städten nach und nach sich belichtern von Osram-Birnen und 16Zoll-Farbbildschirmen, das Abendpogrom durch die Fenster in den Himmel flimmernd. Daher ging ich im benachbarten SPAR jetzt auch vor den Whisky-Regalen auf und ab und ab und auf und verglich die Preise von Balantines, Tullamore Dew, Johnnie Walker, Double Q, Racke Rauchzart, Glennfiddich, Jack Daniels, Jim Beam, Medley's, Black & White, Mc Illroy, VAT 69, Dimple, denn es bedurfte keines Rausches, sondern der fokussierten Kraft des Hirns, in den Lärm zu horchen, den Lärm von einbetonierten MonierEisen, lauschend dem Fortschreiten der Rostblüte bei Schienensträngen.

Collage aus "MERzMonstrum" (jm 1989)

"Herrje!" stöhnte Nigel, warf dabei den Kopf zurück, wie ein Pferd, das die Mähne schüttelt. In der Tat, die beiden Flurschluchten waren in Erregung. Die hellschwarzen Platten gingen von Nadel zu Nadel, wir hingen auf der Nadel, gedörrt achteten wir mit schöner hoher Stirn auf ihre Schwingungen und ließen eine Injektion nach der anderen zu. Wir waren tätig und willig, ja wollüstig, uns mit Lava überhäufen zu lassen, durch deren poröse Löcher gleich dem Nadelstich im schwarzsamtausgeschlagenen Pappkarton einer Camera Obscura Bilder entworfen wurden, lichtschwach zunächst, ehe die AugenBlenden sich geweitet hatten, aber gestochen scharf und alle verkehrten ...keiten verkehrend zur Kenntlichkeit.

Die neue LP stand 14Mark80 hoch ins Haus, in die Büros, in die Labors, wo wir sie gleich sezierten, von einer Präpariernadel auf die andere weitergereicht. Willige Tätigkeit, o große Tugend, erfüllte uns. Kamen tätige Zweifel auf, kopfwiegendes Erstaunen, den neuen Bauten komme mehr und mehr ihr ureigener Zweck abhanden, nämlich einzustürzen und damit einzustürzen, was nur stabile Fassade noch errigiert hält? War da neuerdings Struktur in der Zerstörung der architektonischen Strukturen (des Termitenhügels, der heißt 'bürgerliche Gesellschaft'), war das neue Struktur gegen die in Wahrheit Unstruktur, wollten die jetzt Muzak durch Muzak hindurchstürzen (durch dies schwarze Loch von Einfalt in einen anderen Parallelkosmos?), der Weg durch die Institution Kulturbetrieb (was ja möglicherweise sehr sehr schlau angezettelt werden kann), die Revolution nur noch als klangvolle StereoDevotionale, aufgefangen mit der Akribie und FEinheit eines DAT-Recorders, untermalend (malend! in Aquarell) bejammert von monoton choralenen Klagelauten wie von einem MönchsChor unterm Crucifixus?

"Rösner & Degowski, Busreisen", memorierte ich auf dem Weg ins Fabrik-Kino, vorne Nigel in Form eines gespannten Bogens, ebenso wir und Gerhard, nur Ögyr vom Gewicht des Bartes vornüber gebeugt. Dann saßen wir, gekreuzte Beine, in der ersten Reihe des Fabrik-Kinos, sehend den kollossalen Mensch-Film, 1/2 auch der Ton, kühl und mono, und das war genau richtig, nicht der erwartete HighTechSund, sondern die Botschaft aus dem Erdmantel, wo die Kruste in grollendes Magma übergeht. Und Bosch, Hieronymus, Hieronymus, hörst du mich, du warst es, ebenso der Bohrer aus demselben Hause. Wie das brodelte, wie das brodelte, da hatte ich mein Herz von ihnen, den Neubauten, einmauern lassen wie Groß-Berlin, stranguliert das mit dem Kabel von Blixas Mikrofon, und das war geil!

Zurück in der Werkstatt (MyHomeIsMyMuscle) setzten Ögyr und ich gleich wieder den Tonarm ins Gleis, bis jede unsrer Phasen bebte, vor Wissen, Schlauheit und strenger Intelligenz. Und dann legten wir Händel auf, Orchesterkonzert B-dur, das war so anders, so anderes missbraucht, oh Weh uns! Uns wurde davon jetzt Angst und Banging des Kopfes, nie mehr fortan vom Bodenlosen der Einstürzenden, sondern vom Unterbodenschutz.

"Deutschland, 12. September 1989", orakelte BILD vom die erste Seite einfassenden schwarzrotsenffarbenen Jubelrand. HeimInsReich verkehrt waren nämlich an diesem Tage tausende Bürger der DDR aus Ungarn. Seit Tagen schon und nun waren zu lesen gewesen die deutschen Fremdworte, die in den deutschen Hirnen ausbaldowern, die sind voller breiter deutscher Diphtonge und werden dadurch behäbig und schwer und klingeln mehr, als dass sie wirklich bedeuten: Freiheit, Einheit, Deutschland. Und das sind alles Lügen, Kartenhäuser, auf denen imaginäre Grenzverschiebungen zurück nach 41 erfolgten auch jetzt. Und da dies geschah und der Nachrichtensprecher in IchAberSageEuchPose sich warf, selbstlos wie der Bundeskanzler, da interviewte Nigel vor dem Konzert F.M.Einheit, dessen Name ist Gespür für diese wunderlich klinkenden deutschen Worte, FreiheitEinheit, die müssen wir verlärmen, um die Lüge zu liquidieren (und liquidieren heißt ja verdolmetscht nichts anderes als auflösen, in den Aggregatzustand der Lösung überführen), sie zu verkehren in Feinheit und Meineid. FEIND!, so müssen wir ihnen mit immensen Dezibel entgegenexplodieren und NEIN, NEIN, so Blixa dann im Konzert, dass jeder weiß, wem das schlichte JA gilt, das dem NEIN folgt, nicht euch, ihr ... Ich aber floh noch hinter Linsenkrümmungen und SilberChlorid, fotograffitiierte, fotofiltrierte eilig Einheits Gesicht des Soldaten im Kampfanzug. Hatte je ich mich gegen Gewalt versprochen, da ahnte ich nichts von der guten Gewalt, jaja die will ich bekennen, so stellte ich scharf. Oben zeichneten Worte, ich Bilder, unterbelichtet (klapperte doch auch jetzt Nigels Schreibmaschine, druckte direkt aufs Papier, während ich auf dem Bild beSchirmt Hieroglyphen ansammelte).

Hatte sich Ögyrs Herz willig der Strangulation durch Blixas Mikrofonleitung nackt entblößt, so erwies sich das nun als sehr wahr, die Tötung des Gefühls, einzige Möglichkeit empfindlich zu bleiben. Der Lärm in der Halle, schollernd wie in einem riesigen Abflussrohr, o Purgatorium, große reinigende Dusche Schall (ja, lasst uns deutsche Opfer in den Duschräumen das Gas mit tiefen aufnehmenden Zügen inhalieren!). Der Lärm betäubte die leichtgläubigen Sinne, noch Stunden war er taub, O, Ögyr war ganz Kopf, das Hirn dachte und nahm zu sich wahr ohne Filter, zum Puren geläutert. Und das war gut, zu gut. Tags darauf begegnete Ögyr der Satz, den man irgendwo, in falschem Zusammenhang natürlich, wie alles jetzt in den modernden Altbauten, zitierte, der war wahr und hieß: 'Was du nicht weißt, musst du lernen. Wenn du lernen willst, helfen wir dir, wenn nicht, zwingen wir dich.' Wir werden dich zwingen.

(jm 1989)