Anti-Atom

Mal eben einen kleinen Reaktor zusammengemischt

Vorarbeiter wollte schnellen Feierabend

Japan hat Ende September den bisher schwersten Atomunfall seiner Geschichte erlebt. In der Tokaimura Brennstofffabrik in der Präfektur Ibaraki wurden 16 kg hoch-angereichertes Uran in einen Behälter gegeben, der nur für 2,4 kg konzipiert war. Dadurch wurde die kritische Masse überschritten und eine unkontrollierbare Kettenreaktion ausgelöst. Drei Arbeiter wurden akut verstrahlt, Straßen in drei Kilometer Umgebung abgesperrt und in einem Radius von 350 Metern um die Anlage alle Wohnungen evakuiert. Die Regierung in Tokio bildete einen Krisenstab.

Beim Zerfall radioaktiver Atome, wie dem Uran 238, werden Neutronen freigesetzt, die ihrerseits wieder benachbarte Atome spalten, wobei große Mengen Energie freigesetzt werden. Ist eine kritische Masse spaltbaren Materials überschritten, kommt eine sich verstärkende Kettenreaktion in Gang. In Atomkraftwerken wird diese mit sog. Moderatoren, die die Neutronen abbremsen oder einfangen, gesteuert. Wie groß der Schwellwert ist, ab dem eine kritische Masse vorliegt, hängt vom verwendeten Material und dem Grad der Anreicherung ab.

Das japanische Bürgerzentrum für Atominformationen CNIC weist daraufhin, dass die Sicherheitsbestimmungen für die Tokaimura-Anlage wesentlich laxer sind als für Atomkraftwerke. Offensichtlich seien die Kontrollsysteme nicht ausreichend, so dass so ein folgenschwerer Fehler geschehen konnte. Insbesondere machen sie auch auf die Unverantwortlichkeit aufmerksam, eine derartige Anlage in einem Wohngebiet zu betreiben. Die Verantwortlichen in der Atomanlage haben sich nach Informationen des CNIC offensichtlich reichlich Zeit mit der Benachrichtigung lokaler Behörden gelassen, so dass auch 12 Stunden nach Beginn des Unfalls die Evakuierungen und Absperrungen nicht im notwendigen Umfang durchgeführt waren. In der Nachbarschaft der Atomfabrik wurden nach offiziellen Angaben 0,84 Millisievert pro Stunde Radioaktivität gemessen, was dem 4.000-fachen der in Japan zugelassenen Jahresdosis entspricht.

Der Unfall in Ibaraki war nicht der erste in der Tokaimura-Fabrik. Am 11.3.1997 kam es in dem Werk zu einer Explosion mit anschließendem Brand. 37 Arbeiter wurden bei diesem Unfall verstrahlt. Freigesetzte Radioaktivität gelangte bis nach Tokio.

Dass es bei dem diesjährigen Unfall nicht zu Schlimmeren kam, ist dem selbstlosen Einsatz einiger Feuerwehrleute zu verdanken. Die waren in den hochverstrahlten Raum mit dem Uran vorgedrungen und hatten den Prozess nach über 20 Stunden gestoppt. Der Preis dafür werden bleibende gesundheitliche Schäden sein. Für die drei Arbeiter, die das Uran zusammengeschüttet hatten, besteht kaum eine Überlebenschance. Insgesamt wurden in der Anlage 55 Personen verstrahlt. Über die Belastung der Bevölkerung der umliegenden Wohnviertel gibt es keine verlässlichen Angaben. Die Regierung gab am Wochenende nach dem Unfall wieder Entwarnung, doch vorläufige Messergebnisse von Greenpeace lassen darauf schließen, dass zu diesem Zeitpunkt die Strahlung noch nicht wieder abgeklungen war.

Die 300.000 Bewohner der Nachbarschaft der Anlage konnten zwei Tage nach dem Unfall ihre Häuser wieder verlassen. Auch die unmittelbaren Anwohner konnten in ihre Wohnungen zurückkehren, doch viele misstrauen den Bekundungen der Regierung, die Gefahr sei vorüber.

Japans Regierung verspricht indes, alle nuklearen Anlagen des Landes einem Sicherheits-Check zu unterziehen. "Ich glaube", soll Premierminister Keizo Obuchi dem Gouverneur Ibarakis gesagt haben, in dessen Präfektur Tokaimura liegt, "die Regierung sollte die Sicherheitsmaßnahmen in den Atomanlagen überprüfen, um so einen Unfall zu verhindern". Die Überprüfungen sollen v.a. sicherstellen, dass die Betreiber nicht die von der Regierung genehmigten Abläufe in ihren Anlagen eigenmächtig ändern, wie dies in Tokaimura der Fall gewesen zu sein scheint. Wie japanische Zeitungen berichten, hat es dort nicht einmal die Möglichkeit gegeben, Neutronenstrahlung zu messen, so dass für einige Stunden der Unfall nicht richtig eingeschätzt werden konnte. Erst auf Intervention lokaler Behörden begann ein Forschungsinstitut entsprechende Messungen, so dass nach dem Beginn des Unfalls mehr als sechs Stunden vergingen, bis die Bevölkerung gewarnt werden konnte. Dem Tokaimura-Betreiber JCO wurde inzwischen die Lizenz entzogen.

Zwei Tage nach dem Unfall wurden die Büros der Betreibergesellschaft in Tokio und Tokaimura durchsucht. Die Atommanager hatten bereits zugegeben, ein Handbuch für die Prozessabläufe in der Fabrik illegal manipuliert zu haben. Vier Jahre lang habe die Anlage mit nicht genehmigten Standards operiert. Die sahen so aus, dass Arbeiter in dem Werk das Uranhexaflorid manuell in Edelstahleimern transportiert haben. Der Unfall ereignete sich in einem Raum, in dem das aus Frankreich importierte Material mit einer Säure behandelt wird, um Verschmutzungen zu entfernen. Die Arbeiter hätten nicht mehr als 2,4 kg Uran in das Setzbecken füllen dürfen, um das Entstehen einer kritischen Masse zu vermeiden. Der Vorarbeiter, der die Arbeiten anleitete und zu den drei am stärksten betroffenen Strahlenopfern gehört, sagte gegenüber der Polizei aus, er habe die anderen beiden angewiesen, mehr zu nehmen, um den Prozess zu beschleunigen. Er habe früher Feierabend haben wollen. In der Anlage in Tokaimura wird hoch-angereichertes Uran für den schnellen Brüter in Joyo hergestellt.

An der Tokioter Börse fiel am Tag nach dem Unfall der Kurs von Sumitomo Metal Mining, der die Tokaimura-Betreibergesellschaft JCO gehört, um 19%. In der nachfolgenden Woche setzte sich der Abwärtstrend angesichts der erwarteten Schadenersatzansprüche fort. Die können u.a. auch von den 300.000 Anwohnern geltend gemacht werden, die für über einen Tag gezwungen waren, in ihren Häusern zu bleiben. Japanische Gesetze beschränken die von Versicherungen abgedeckte Summe im Falle eines Atomunfalls in kleinen Anlagen auf 1 Mrd. Yen. Für AKWs beträgt die Grenze derzeit 30 Mrd. Yen, soll aber demnächst auf das Doppelte erhöht werden. Ansprüche, die darüber hinausgehen, müssen von den Betreibern beglichen werden. Summen, die von diesen nicht übernommen werden können, müssen laut Gesetz von der Regierung getragen werden. Tokaimuras Kommunalpolitiker haben bereits angekündigt, dass sie auf Schadenersatz klagen werden.

Kaum war das Uran in Tokaimura wieder unter Kontrolle, da versicherte Japans Regierung, sie werde an ihrem Atomprogramm festhalten. Das ist durchaus ehrgeizig: Zu den bisher 51 Atomkraftwerken, die derzeit ca. 37% der elektrischen Energie Nippons erzeugen, sollen bis zum Jahre 2010 21 weitere hinzu kommen. Die Gesamtleistung aller AKW wird nach Vorstellungen der Regierung in Tokio von derzeit knapp 45 Gigawatt auf ca. 71 Gigawatt steigen. Der japanische Inselbogen gehört zu den aktiven Erdbebenregionen der Erde.

Die Realisierung der Ausbaupläne dürfte nach dem Atomunfall fraglicher denn je sein. Auch in Japan wächst der Widerstand gegen den Bau neuer Atomanlagen. Die Kritiker sind gut organisiert und können sich zumeist auf die örtliche Bevölkerung an den Standorten stützen. Deshalb konzentrieren sich Kraftwerksbauer auf die bereits bestehenden drei Atomzentren des Landes, in denen schon jetzt 60% der japanischen AKWs zusammengefasst sind. Aber selbst dort haben die Atomkonzerne kein leichtes Spiel mehr. Nach Angaben von Jinzaburo Takagi, Direktor des CNIC, stießen in letzter Zeit die Ausbaupläne v.a. in Wakasa, dem größten Atomzentrum des Landes in der Präfektur Fukui, auf erheblichen Widerstand der Bevölkerung. Im August 96 hatten sich in Maki, einer Stadt in der Präfektur Niigata, in der ersten Volksabstimmung des Landes über den Bau eines AKW, die Bürger gegen die Pläne der Atomindustrie ausgesprochen.

Die hat indes ähnliche Sorgen wie ihre deutschen Kollegen. Trotz der Regierungspläne gehen die Aufträge für Neubauten im Inland dramatisch zurück. Seit Beginn der 90er wurden nur noch zwei neue Meiler im Land bestellt. An vielen Universitäten wurden inzwischen die Institute für Reaktorbau geschlossen. Ähnlich wie in Deutschland drängt man daher verstärkt auf den internationalen Markt. So wurde in den letzten Jahren Atomtechnologie u.a. nach Taiwan geliefert, obwohl die Inselrepublik nicht Unterzeichnerstaat des Nichtverbreitungsvertrages von Atomwaffen ist. Auf Fragen der Opposition, wie eine militärische Verwendung der gelieferten Ausrüstung verhindert werden soll, konnte die Regierung im Parlament nur ausweichend antworten.

Entsprechend macht den Atomkraftgegnern vom CNIC nicht nur der Neubau von AKWs Sorge. Takagi kritisiert auch scharf das Plutonium-Programm seiner Regierung. 1997 habe Japan bereits 15 Tonnen des Ultragiftes besessen, das bei der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente anfällt und auch zum Bau von Atombomben benutzt werden kann. Vom wirtschaftlichen und energetischen Standpunkt aus sei die Plutonium-Herstellung einfach sinnlos. Und selbst wenn die Regierung keine geheimen militärischen Absichten mit dem Bombenstoff habe, so führe seine Existenz doch zu einer Kettenreaktion besonderer Art in der Region. Schon jetzt habe China den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage angekündigt, um seinerseits an den Waffenstoff heranzukommen. Japans Politik trage also zur nuklearen Aufrüstung in der Region bei.

(wop)