Islamismusdebatte:

Wessen Leitkultur?

Nach dem Mord an dem holländischen Filmemacher van Gogh und den anschließend brennenden Gotteshäusern folgte im angeblich toleranten Holland, und dann auch in Deutschland, eine bis jetzt nicht enden wollende Diskussion über europäische "Leitkultur" und "den Irrtum der Multikulti-Politik". Der Islam wurde als neuer Feind mitten unter uns identifiziert.

Wer sich jedoch die Mühe macht, ein wenig tiefer in die Geschichte einzutauchen, merkt bald, dass alle drei Religionen, die sich jetzt hier erneut bekriegen - Judentum, Christentum und Islam - denselben patriarchalen Ursprung haben, nämlich den Erzpatriarchen Abraham, der aus Mesopotamien aufbrach, dem heutigen Irak, und mit seinen Herden und seinem Clan nach Palästina auswanderte. Die Ursprungsmythen, die Kosmologien und Anthropologien und die Gesetze dieser Religionen gehen auf babylonische Quellen zurück. Sie wurden zum Teil aus den Gesetzesbüchern abgeschrieben, die die Juden während ihrer Gefangenschaft in Babylonien vorfanden. Allen ist gemeinsam, dass Frauen ein niedrigerer Status zugewiesen wird als Männern.

Kopftuch und Schleier

Die Provokation van Goghs bestand darin, dass er eine Koransure auf einen nackten Frauenkörper malte, nämlich die Sure, die besagt, menstruierende Frauen seien unrein, und dies dann filmte. Was die "Unreinheit" von menstruierenden Frauen betrifft, die van Gogh allein dem Islam zuschreibt, sind wir keineswegs so weit von den Muslimen entfernt, wie die meisten denken. Die "Unreinheit" menstruierender Frauen ist Teil der patriarchalischen und nicht der muslimischen Ideologie.
Sie galt nicht nur für die Juden des Alten Testaments, sondern bis in die Neuzeit hinein auch bei Juden und Christen im "aufgeklärten" Europa. In Köln befindet sich zum Beispiel das "Judenbad" auf dem Kölner Rathausplatz. Dort mussten jüdische Frauen sich nach der Menstruation baden, um wieder "rein" zu sein, ehe sie sich erneut einem Mann näherten. In katholischen Gegenden galten Frauen, die gerade ein Kind geboren hatten, ebenfalls als "unrein". Neun Tage nach der Geburt durfte eine solche Frau keine Kirche betreten. Erst musste sie vom Priester "ausgesegnet", das heißt gereinigt werden.

Auch das Kopftuch, das häufig angeführt wird, um die Unterwerfung islamischer Frauen zu illustrieren, hat ursprünglich nichts mit dem Islam, sondern mit dem patriarchalen Eigentumsrecht der Männer an Frauen zu tun. Die siegreichen Könige der Babylonier - Plünderer und Räuber insgesamt - waren die ersten, die für die eigenen Frauen Harems einrichteten. Nach den Haremsedikten des Königs Tiglatpilesar (1117 - 1077 v. u. Z.) musste ein Mann bei der Eheschließung unter Zeugen seiner Neuvermählten einen Schleier überwerfen. Damit wurde demonstriert, dass sie nun sein Eigentum war. Unverschleierte Frauen galten als Prostituierte, die Verschleierte hingegen galt als ehrbare Frau.

Die Adelsklasse ahmte die Könige nach und fing an, die "eigenen Frauen" ebenfalls zu verscheiern. Auch im Alten Testament gelten die Frauen der besiegten Feinde als "bewegliches Eigentum" das an die siegreichen Männer verteilt wurde, zusammen mit Schafen, Ziegen, Eseln und Kamelen. Ohne diesen Frauenraub wäre die Verheißung Jahwes, die Kinder Abrahams so zahlreich wie den Sand am Meere zu machen, nicht so schnell in Erfüllung gegangen. Auch hier besteht eine Klassenspaltung zwischen den "freien, monogamen" eigenen Frauen und den angeeigneten Frauen.

Symbol des Eigentums

Auch die Christen kennen dieses Verschleierungsgebot. Bei der Eheschließung trägt die Braut bis heute einen weißen Schleier. Von einer Frau, die geheiratet hat, heißt es, sie sei "unter die Haube gekommen". In den katholischen Kirchen mussten bis vor kurzem die Frauen auch bei uns den Kopf bedeckt haben. In südeuropäischen Ländern gilt diese Sitte bis heute. Sie ist nicht etwa Ausdruck von Keuschheit und Ehrfurcht vor Gott, sondern bedeutet, dass die Frau Eigentum Gottes und eines Mannes ist.

Auch die Verschleierung der Frauen ist also kein muslimisches, sondern ein patriarchalisches Symbol. In allen patriarchalen Religionen ist sie eine Folge von Krieg, Eroberung, Unterwerfung, Versklavung. Das Verschleierungsgebot ist außerdem eine Klassenfrage. Es drückt den "höheren" Klassenstatus einer Frau aus. Es ist eine Illusion zu glauben, dass diese patriarchalen Tiefenstrukturen durch die Aufklärung und ein paar windige Gesetze zum "Gendermainstreaming" aus unserer modernen westlichen Industriegesellschaft verschwunden wären.

Anstatt die unter uns lebenden Muslime aufzufordern, sich an unsere modernisierte, patriarchalische, kapitalistische, zutiefst gewaltsame und kriegerische "Leitkultur" anzupassen, wäre es angebracht, gemeinsam die tieferen frauenfeindlichen Grundstrukturen auf beiden Seiten zu untersuchen, zu kritisieren und nach ihrer Überwindung zu suchen.

(Maria Mies)

(Dieser Beitrag erschien zuerst in der "jungen Welt vom 17.12.2004. Wir übernahmen ihn mit der freundlichen Genehmigung der Autorin.)