Ein afghanischer Reisebericht
In LinX 23-04 hatten wir bereits die Pressemitteilung von Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. und Pro Asyl anlässlich der Afghanistanreise, die das Afghnistan Info Netzwerk Hamburg Anfang November organisiert hatte, dokumentiert. An dieser Stelle nun der Reisebericht von Erna Hepp, die an dieser Reise teilgenommen hat. Sie ist Hamburger Rechtsanwältin und hat zahlreiche afghanische MandantInnen. Sie war mit
Morgens um 4.00 Uhr wache ich schweißgebadet auf und mache mir zum ersten Mal schwere Vorwürfe, warum ausgerechnet ich heute nach Afghanistan fliegen muss, bei dieser Sicherheitslage. Noch am vergangenen Sonnabend wurde ein Selbstmordattentat in der belebten Einkaufsstraße von Kabul Chicken Street verübt, bei dem eine Frau und ein Kind in den Tod gerissen wurden.
Fast 20 Stunden später betritt unsere Delegation afghanischen Boden. Wir, das sind zehn Personen verschiedener Herkunft und Interessen, bestehend aus dem Organisator der Reise, Rafiq Shirdel vom Afghanistan Netzwerk, seinem Sohn Haroun, der in Deutschland geboren wurde, Bernhard Karimi aus Kiel vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, Cornelia Lehmann, Geschäftsführerin und FDP-Vorsitzende aus Hamburg-Bergedorf, Wolfgang Kalwar vom Rechtsamt Hamburg-Mitte, zwei Studenten der Bundeswehrhochschule, sowie Thorsten Buschbek und ich. Wir beide sind Anwälte und betreuen eine größere Zahl afghanischer Mandanten.
Intention unserer Afghanistan-Reise war es, uns einen persönlichen Eindruck zu verschaffen angesichts der Innenministerkonferenz am 17./18.11.2004, ob mit der beabsichtigten Rückführung afghanischer Flüchtlinge, wie von den Länder- und dem Bundesinnenminister angestrebt wird, tatsächlich gefahrlos begonnen werden könnte.
Um unser Ergebnis vorweg zu nehmen. Wir und alle Stellen, die wir während
unseres einwöchigen Aufenthaltes kontaktierten, sind der einhelligen
Auffassung, dass eine zwangsweise Rückführung der Flüchtlinge
zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in absehbarer Zeit verfrüht ist
und die äußerst fragile Sicherheits- und Versorgungslage in
Afghanistan erheblich gefährden würde. Zu dieser Einschätzung
gelangten wir nach Gesprächen mit verschiedenen afghanischen Ministerien,
hier federführend dem Flüchtlingsministerium, dem Ministerium
für Angelegenheiten von Afghanen in Übersee, dem Arbeits- und
Sozialministerium, sowie dem Frauenministerium. Weiter führten wir
Gespräche mit verschiedenen NGO´s (IRC, IOM, CARE), dem UNHCR
und der Deutschen Botschaft in Kabul.
Denn auch nach fast drei Jahren Interimsregierung unter Hamid Karzai
wird das Land noch in weiten Teilen von Warlords beherrscht, die nach ihren
eigenen Spielregeln über die Geschicke weiter Bevölkerungskreise
bestimmen. Frauenrechte sind dort weitgehend unbekannt. Das Schicksal der
Frauen, von denen auf dem Land nur zwischen drei Prozent und vier Prozent
überhaupt lesen und schreiben können, spielt sich weitgehend
im häuslichen „Gefängnis“ ab. Vergewaltigung, Zwangsverheiratung
und Verkauf junger Mädchen aus finanzieller Not sind keine Seltenheit.
Eigentumsverhältnisse werden mit Waffengewalt geklärt. Raubüberfälle,
das Erpressen von Geldern sind an der Tagesordnung. Wir werden gewarnt,
in ländliche Regionen nur mit zwei Fahrzeugen und nur bei Tageslicht
und in Begleitung von Sicherheitskräften zu fahren, alles andere sei
lebensgefährlich. In den örtlichen Tageszeitungen lesen wir fast
täglich von Überfällen auf der Straße von Kabul nach
Mazar-i-Sharif. Wir selbst werden auch in Kabul ständig von Sicherheitskräften
mit einer Kalaschnikow im Anschlag begleitet.
Nach Kabul, so argumentieren das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und die Verwaltungsgerichte in ihren Textbaustein-Entscheidungen könnten Flüchtlinge gefahrlos zurückkehren. Uns stellt sich die Situation in Kabul anders dar. Ein Großteil der Stadt ist zerstört, ganze Stadtteile bestehen überwiegend aus Ruinen. Es gibt kaum fließendes Wasser, es herrschen katastrophale hygienische Verhältnisse. Das Kanalisationssystem ist den Namen nicht wert. Überall fließen aus den Häusern die Abwässer, einschließlich der Toiletten ungehindert in und durch die engen Gassen bis zur Hauptstraße. Dazwischen Müll, der bei Wind, Regenschauer oder nachts von streunenden Hunden verstreut wird. Ich sehe, wie vor einem Stand mit Frischfleisch mit einer Stange der Unrat aus einer Abflussrinne gezogen wird.
Und überall dazwischen in den Gassen und in den Ruinen spielende
Kinder, deren Gesichter Jahre älter aussehen, als sie tatsächlich
sind.
Kabul platzt aus allen Nähten. Die Stadt, in der früher 700
000 Einwohner lebten, wird mittlerweile von 3 Mio. Menschen bevölkert.
Viele finden jedoch keine menschenwürdige Unterkunft. Die Mieten in
der Stadt sind durch die Anwesenheit der internationalen Organisationen
ins Uferlose gestiegen; Preise fast wie in New York, auch für Personen
mit Beschäftigung nicht zu finanzieren. Ein deutscher Afghane, der
am Flughafen als Grenzschutzbeamter arbeitet, berichtet uns, dass er 60
€ monatlich verdient, sein Zimmer, das er mit zwei anderen Personen
aus seiner Familie bewohnt, kostet Euro 200,—. Unweit des Zentrums von
Kabul sprechen wir in einem Slumgebiet mit Rückkehrern aus Pakistan.
Dort leben 146 Familien mit jeweils vier und mehr Kindern in Behausungen,
aus Stangen, Planen und Lehm notdürftig zusammengebaut. Diese Flüchtlinge
finden keine bezahlbare feste Unterkunft, obwohl die Männer teilweise
im Staatsdienst beschäftigt sind und Einkommen haben; nicht genug
jedoch, um eine Wohnung anzumieten.
Trotz der katastrophalen Sicherheits- und miserabler Versorgungslage öffnen sich auch Lichtblicke in dem seit Jahrzehnten von kriegerischen Auseinandersetzungen geschundenem Land. Afghanistan hat gewählt, sagt ein Minister, - zum ersten Mal in seiner Geschichte. Seit dem 04.01.2004 gibt es eine Verfassung, in der der Gleichheitsgrundsatz von Mann und Frau festgeschrieben wurde. Dass das Land von einer Umsetzung noch meilenweit entfernt ist, liegt nicht nur am Islam, sondern auch an den stammesrechtlich ausgerichteten Gesellschaftsstrukturen. Dennoch: Mädchen dürfen nach Jahren wieder Schulen besuchen oder junge Frauen sich in verschiedenen Berufen ausbilden lassen. Auf dem Weg vom Flughafen und überall in der Kabuler Altstadt herrscht hektisches Treiben. Die Bazare sind mit Waren gefüllt. Auf den Straßen drängeln sich Fahrzeuge und Busse mit Aufschriften und Kennzeichen aus der ganzen Welt. Dazwischen dürfen jedoch die bettelnden Frauen in ihren Burkas und ihre Kinder nicht in Vergessenheit geraten.
Hamburg, 14.11.2004 Erna Hepp