Redebeitrag auf Montags-Demo Ende November:

Ist der Mann noch bei Trost?
 

Im Folgenden dokumentieren wir den Text einer Rede, die am 29. November auf der Kieler Montagskundgebung gegen Hartz IV gehalten wurde:

Die Proteste gegen die von den Regierungsparteien betriebene Politik des Sozialkahlschlags gehen weiter, auch in Kiel.

Ein Monat nur noch - dann wird "Hartz IV" Realität. Trotz aller Demonstrationen und anderer Proteste der vergangenen Monate, an denen im Bundesgebiet Hunderttausende Menschen teilgenommen haben, ist es nicht gelungen, die Agenda 2010 zu stoppen. Die Politiker, die mit ihrer Politik die Wünsche der Unternehmerverbände umsetzen, mögen sich beglückwünschen; erst einmal fahren sie in Schleswig-Holstein fort, die Menschen über die Auswirkungen der Reform zu belügen - schließlich wird im Februar ein neuer Landtag gewählt, und wenigstens bis dahin müssen noch ein paar Versprechungen gemacht werden.
Vor wenigen Tagen, am 19. November, hat die SPD an dieser Stelle ihre Spitzenkräfte Werbung für ihre "Reformpolitik" machen lassen: Rolf Fischer, Jürgen Weber und Heide Simonis begaben sich unters Wahlvolk. Eins ihrer Themen war Hartz IV. "Gott sei Dank sind ja die wenigsten davon betroffen", verkündete dabei Jürgen Weber (lt. KN vom 22.11.), "aber jeder hat schon davon gehört."

Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Wieso "Gott sei Dank", wenn die Reform doch so notwendig und gut für alle Menschen ist, wenn sie doch angeblich den Betroffenen so viele neue Chancen eröffnet? Zweitens: Ist der Mann bei Trost? "Die wenigsten sind betroffen" - eine grobe Unverschämtheit. Unmittelbar betroffen sind die Millionen Menschen, die zur Zeit Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe beziehen. Betroffen sind darüber hinaus alle Arbeitslosen: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wird bald für die meisten auf ein Jahr beschränkt, der Zugang zum Bezug dieser Leistung, die künftig ALG I heißt, wird erschwert. Betroffen sind wiederum zusätzlich alle abhängig beschäftigten Menschen: denn ihnen allen drohen die Bestimmungen des Gesetzes, sobald sie ihren Arbeitsplatz verlieren - und wer hat heutzutage davor keine Angst? Diese Menschen sind auch insofern betroffen, als heute bereits die Drohung mit Hartz IV ihre Erpressbarkeit erhöht und sie - in den vergangenen Wochen und Monaten in allen Gegenden der Republik zu erleben - zu Sonderopfern für die Unternehmer bewegt, in Form von Lohnverzicht, unbezahlter Mehrarbeit, Ausweitung der Wochenarbeitszeit usw., wodurch wiederum das Ansteigen der Massenarbeitslosigkeit bewirkt wird.

Heide Simonis kam nicht weniger dreist daher. Hartz IV sei kein Teufelswerk, meinte sie, die Gegner seien alle nicht richtig informiert, und: "Voll dagegen sind nur die, die nicht persönlich betroffen sind." Das wäre dann ja die gewaltige Mehrheit, wenn man ihre Worte mal mit denen des Herrn Weber in Beziehung setzen wollte. Aber lassen wir die Wortspiele. Erwähnen wir noch, dass nach Rolf Fischers Einschätzung inzwischen 70 Prozent aller Äußerungen zu Hartz IV positiv sind (ob von Betroffenen oder Nicht-Betroffenen gemacht, erwähnt er nicht), und legen wir uns selbst und unseren KollegInnen, unseren Familienangehörigen und FreundInnen die Frage vor: Sind wir betroffen? Sind wir informiert und erkennen deshalb, wie sehr wir alle betroffen sind? Und sind wir etwa, wie Heide Simonis behauptet, gerade deshalb etwa nicht "voll dagegen"?!

Uns droht selbst nach offizieller Arbeitslosen-Statistik, die etwa drei Millionen Arbeitssuchende unter den Tisch fallen lässt, eine Rekord-Erwerbslosigkeit von mehr als fünf Millionen Menschen in diesem Winter. Und wie es um die Lebenslage der Menschen in unserem Land bestellt ist, dazu titelte die KN: "Reiche noch reicher, Arme immer ärmer - Soziale Unterschiede wachsen weiter". In der offiziellen Statistik wird der Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, auf 13,5 Prozent der Bevölkerung beziffert. 10 Prozent der Bevölkerung halten fast 50 Prozent der privaten Nettovermögen - 50 Prozent der Bevölkerung müssen sich mit 4 Prozent des Vermögens bescheiden! Diese gigantische Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben ist die wesentliche Bilanz der SPD-Grünen-Regierung, und es tröstet uns nicht, dass die Unionsparteien und die FDP diese Ungerechtigkeit gern noch steigern würden, nachdem sie sich von dem Erstaunen erholt haben, in das sie die Rasanz des von angeblichen Sozial-Demokraten betriebenen Sozialabbaus und in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Wahlbetruges versetzt hatte.

Mit dem Stimmzettel ist nichts daran zu ändern, dass durch Hartz IV mit Beginn nächsten Jahres die ohnehin schon hohe Kinderarmut drastisch ansteigen wird - "Bald 2,5 Millionen Kinder an der Armutsgrenze", war ein (kleiner) Artikel in den KN am 07.11. überschrieben. Drunter machte ein Artikelchen mit der Überschrift "Fast jeder vierte Arbeitslose bald ohne Hilfe?" darauf aufmerksam, dass mehr als 500.000 Menschen, die zur Zeit Arbeitslosenhilfe beziehen, im nächsten Jahr ohne jede Unterstützung dastehen sollen - Fakten, die verschiedene Gewerkschaften schon lange offengelegt hatten, die aus der öffentlichen Diskussion aber gern herausgehalten wurden und werden. Leider ist die Bestätigung dieser Zahlen durch die Medien für die meisten Gewerkschaftsorganisationen keineswegs Anlass, in der Unterstützung und Organisierung des Protestes einen Zahn zuzulegen. Ich kann Euch hier nur versprechen, dass wir nicht müde werden, für einen entschiedeneren politischen Widerstand unserer Gewerkschaften zu kämpfen.

Die Hartz-Gesetze müssen zurückgenommen werden!

Wir setzen uns dafür ein, dass die vorliegenden Alternativen zu der herrschenden neoliberalen Politik, wie sie etwa von ver.di und der IG Metall formuliert wurden, nicht bloß auf dem Papier stehen bleiben. Wir kämpfen für eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit in Richtung 30-Stunden-Woche - wie sollen denn sonst die Millionen Arbeitslosen in Lohn und Brot kommen? Wir kämpfen gegen Billiglöhne und 1-Euro-Jobs - Arbeit darf nicht arm machen, Verdienst muss zu gutem Leben reichen, und ein gesetzlicher Mindestlohn muss die mit dem lange betriebenen Lohndumping in Gang gesetzte Abwärtsspirale zu stehen bringen und zurück drehen. Geld ist genug da - wir kämpfen für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten! Für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und für Anhebung statt Absenkung des Spitzensteuersatzes!

Wir kämpfen gegen den Amoklauf der Unternehmer, die  der gegenwärtigen Regierung die Agenda 2010 diktiert haben und der zukünftigen, welche Farben sie auch tragen mag, bereits ins Stammbuch geschrieben haben, dass diese Agenda, Hartz IV usw. erst der Anfang sein dürfe und noch viel weitergehende Maßnahmen zur Zerschlagung der sozialen und der demokratischen Errungenschaften folgen müssten. Das macht zugleich deutlich, dass wir es nicht nur mit einer "falschen" Politik zu tun haben: Hier stehen Interessen gegeneinander, Klassen-Interessen. Die Unsicherheit unserer Existenz können wir nur beenden, wenn wir dafür sorgen, dass Produktion und Verteilung nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen und ihrer Familien erfolgen, nicht entsprechend dem Profitinteresse der privaten Eigentümer von Fabriken und Kapital, die uns in Erwerbslosigkeit und Elend stürzen, wenn sie an unserer Arbeit nicht mehr genug verdienen.

Wir wissen: Die von den Unternehmern geforderten härteren Maßnahmen werden folgen, wenn wir im Widerstand nicht vorankommen. Wir wissen, dass vielen Menschen erst im nächsten Jahr so richtig klar werden wird, was Hartz IV tatsächlich bedeutet. Wir werden alles tun, um die Flamme des Widerstandes im kommenden Jahr wieder anzufachen und kräftiger emporschlagen zu lassen. Wir rufen Euch auf: Tut mit dabei.
(D.L.)