Vor 50 Jahren begann der Algerienkrieg:

Kolonialmassaker

Vor knapp zwei Monaten, am 1. November, jährte sich zum 50. Male der Beginn des bewaffneten Befreiungskampfes gegen die französische Kolonialherrschaft in Algerien. Der nachfolgende Beitrag wirft einen Blick auf diese Zeit und ist damit unter anderem auch in gewisser Weise ein interessanter Beitrag zur gegenwärtigen, von den Konservativen und einem der Liberalen Westeuropas angezettelten Debatte über die Verteidigung christlich-europäischer Werte gegen die Kultur islamischer Einwanderer.  (wop)

Der Befreiungskrieg wird fast acht Jahre dauern und zwischen 600.000 und einer Million Tote auf algerischer Seite kosten, überwiegend Zivilpersonen. Auf französischer Seite sterben bis zum Waffenstillstand, den die Accords d'Evian (Übereinkünfte von Evian) im März 1962 besiegeln, nach offiziellen Angaben 27.000 Soldaten und 3.000 Zivilisten. Besonders prägend für den Verlauf des Befreiungskriegs wird der massive Einsatz der Folter durch die französische Staatsmacht gegen tatsächliche und vermeintliche Rebellen. Dieser Skandal, “die Folter in der Republik” - so der Titel eines Buches des linken Historikers Pierre Vidal-Naquet - wird den Kolonialkrieg international diskreditieren.

Er wird aber auch zur Formierung einer innenpolitischen Opposition beitragen, deren Speerspitze die so genannten porteurs de valise ("Kofferträger", der Begriff wurde von Jean-Paul Sartre kreiert) darstellen, die den algerischen Untergrund mit Waffen, Geld oder falschen Papieren versorgen.

Libertäre Kommunisten, Trotzkisten und die linkssozialistische "Vereinigte sozialistische Partei" PSU finden sich schon früh in der Opposition gegen den Algerienkrieg zusammen. Hinzu kommen ab Mitte der 50er Jahren auch progressive Christen, die etwa in der Zeitschrift Témoignage chrétien (Christliches Zeugnis) einen kompromisslosen Kampf zur Anprangerung der Folter führen.

KP im Clinch

Die französische KP dagegen warnt zunächst vor "politischem Abenteurertum" und unterstützt die in der ersten Kriegsphase bis 1958 amtierenden sozialdemokratischen Regierungen - weil man schätzt, dass von dem in der Opposition auf seine Stunde wartenden Ex-General Charles de Gaulle eine "faschistische Gefahr" ausgehe, gegen die man die "Einheitsfront" mit den Sozialdemokraten suchen müsse.

So stützt die KP im Parlament 1956 die neue Regierung von Guy Mollet, die den Krieg in Algerien intensiviert. Doch zugleich sind einige Parteimitglieder schon früh in konkrete Aktionen zur Unterstützung der Befreiungsbewegung verwickelt, und einige bezahlen einen hohen Preis dafür. Der französische Kommunist Fernard Yveton wird auf Anordnung des "sozialistischen" Justizministers, eines gewissen François Mitterrand, mit der Guillotine hingerichtet. Der europäischstämmige Kommunist Maurice Audin - ein junger Mathematiker, der an der Universität von Algier arbeitet - wird im Juni 1957 von französischen Militärs in Algier entführt und zu Tode gefoltert; er ist 25 Jahre alt . Ein weiteres Parteimitglied, der Abgeordnete Henri Alleg, schreibt im selben Jahr aus dem Gefängnis heraus La question (Die Frage), worin erstmals einer breiten Öffentlichkeit der massive Einsatz der Folter im "französischen Algerien" dargestellt wird. Henri Alleg war bis 1955 der Direktor der dann verbotenen, prestigereichen Zeitung "Alger Républicain", die den Kommunisten des PCA nahe stand. Im Juni1957 ist er von französischen Fallschirmjägern verhaftet und zunächst an einen unbekannten Ort verschleppt worden. In "La question" beschreibt Alleg, was in den Verhörzentren und Gefangenensammelstellen vor sich geht.

Erst gegen Kriegsende verurteilt die Partei dann eindeutig die Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft, nachdem sie zuvor die eher schwammige Forderung nach "Frieden in Algerien" verteidigt hatte. Die französische Staatsmacht rächt sich bitter: Im Februar 1962 findet anlässlich einer Demonstration der KP und der CGT das "Massaker von Charonne" statt. In der gleichnamigen Pariser Métro-Station drängt die Polizei die DemonstrantInnen in die Eingangsschächte der Métro ab, schießt Tränengas hinein und wirft schließlich Stühle und Tische eines Cafés hinab. Neun Menschen sterben, vorwiegend junge Arbeiterinnen und Gewerkschafter.

Das größte Massaker an der Heimatfront hatte allerdings bereits früher stattgefunden: Am17. Oktober 1961 ermordete die Pariser Polizei, unter den Befehlen eines gewissen Maurice Papon, 300 Algerier mitten in der französischen Hauptstadt; an der damaligen Demo hatte die französische Linke nicht teilgenommen. Dieses Staatsverbrechen ist erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren durch die Bücher des Historikers Jean-Luc Einaudi näher aufgeklärt worden.

Die linke Opposition gegen den Algerienkrieg wird historisch zur entscheidenden Generalprobe für die spätere Bewegung des Mai 1968 werden: Deren wichtigste Träger hatten sich bereits Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre herausgebildet. Grund genug für die heutige Linke, sich mit der Bedeutung dieses Abschnitts der europäischen Geschichte zu beschäftigen.

Notwendig, nicht hinreichend

Aber auch die Grundlagen für das spätere Herrschaftssystem im unabhängig gewordenen Algerien werden während der acht Jahre des Befreiungskrieges
gelegt. An dessen Ende steht bereits die wichtigste Stütze staatlicher Herrschaft in den darauffolgenden Jahrzehnten bereit: Es handelt sich um den militärischen Apparat der "Nationalen Befreiungsarmee" ALN. Zunächst wird sie die Macht während der "Selbstverwaltungsbewegung" (mouvement d'autogestion) von 1962 bis 1965 mit anderen sozialen Kräften teilen müssen, doch im Juni1965 wird die Armee die Macht übernehmen. Deswegen muss auch der Frage nachgegangen werden, wie sich solche Herrschaftsstrukturen bereits in den Jahren des Befreiungskriegs selbst herausbilden konnten.

Was war das Verhältnis des "militärischen Arms" zum "politischen Arm" der Nationalen Befreiungsfront (FLN)? Welche Bedeutung hatten politische Kräfte, Programme, Utopien und Ideologien? Die "nationale Befreiung" vom französischen Kolonialismus war eine (wie ein Philosoph formulieren würde) "notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung" für die Suche nach einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Notwendig war sie zweifellos, denn im französischen Herrschaftssystem in Algerien war an jegliche Vorstellung von Emanzipation nicht zu denken. L'Algérie française, die von1830 bis 1962 bestehende französische Siedlungskolonie in Algerien, basierte auf einem kolonialen Apartheidsystem, das nach religiösen Kriterien funktionierte. Die Bevölkerung war in drei Kategorien eingeteilt: Christen, Juden und Moslems. Nur die Christen, bei Kriegsende gut eine Million, hatten volle Bürgerrechte. Die Juden, bei der Unabhängigkeit waren es etwa 140 000, hatten seit 1870 gleiche politische Rechte; sie waren aber bis ins 20. Jahrhundert hinein beruflichen Diskriminierungen unterworfen.
Dagegen waren die offiziell als "musulmans" bezeichneten Angehörigen der arabischen und berberischen Mehrheitsbevölkerung - acht bis neun Millionen Menschen - weitgehend rechtlos. Abgesehen von einer kleinen "assimilierten" Elite, der ein fester Prozentsatz von Sitzen in den von Europäern beherrschten Kommunalparlamenten reserviert war.

So waren die musulmans Jahrzehnte lang dem infamen Code de l'indigénat (Eingeborenen-Gesetzbuch) von 1881 ausgeliefert, das etwa das Prinzip der Responsabilité collective (kollektiven Verantwortung) festschrieb: Beging ein musulman ein "Verbrechen" gegen einen europäischen Siedler oder gegen die Staatsmacht, konnte jeder beliebige Angehörige dieser Bevölkerungsgruppe zur Rechenschaft gezogen werden. Erst 1944 wurde dieses Gesetzbuch unter Charles de Gaulle offiziell aufgehoben, doch auch danach war die Realität nicht viel besser.

Als Araber und Berber am 8. Mai 1945 den Sieg über den Faschismus in Europa - zu dem Hunderttausende nordafrikanische Soldaten in der französische Armee beigetragen hatten - feiern und "Freiheit auch für die Völker Nordafrikas" fordern wollten, schlug die koloniale Repression brutal zu. Die Massaker des 8. Mai 1945 von Sétif, Melbou, Kherrata und Guelma forderten 15 000 bis 45 000 Tote. Wenn also europäische Reden von "Demokratie" und "Fortschritt" in algerischen Ohren oftmals wie Hohn klingen, dann hat das nachvollziehbare Gründe.

Wenn die Beendigung der europäischen Herrschaft über Algerien also absolut notwendig war, so war sie dennoch nicht hinreichend, um eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und Unterdrückung zu errichten. Vielmehr wurden die im Befreiungskrieg entstandenen Strukturen zur Quelle neuer Herrschaft, auch wenn diese in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit zweifellos weitaus erträglicher erscheinen würde als die alte Herrschaft - bis zum Zusammenbruch des (staats)sozialistischen Entwicklungsmodells in den 80er Jahren.
(Bernhard Schmid)

Dieser Text erschien zuerst in der Schweizer Wochenzeitung "Vorwärts". Wir entnahmen ihn dort mit freundlicher Genehmigung des Autors. Der Text ist die Einleitung zu einem Essay, der einen Blick hinter die Kulissen der nationalen Befreiungsbewegung Algeriens wirft: "Der FLN: von der Gegenmacht zur Staatspartei". Im Internet auf www.vorwaerts.ch.

Dieser Tage kommt ein Algerienbuch von Bernhard Schmid frisch aus dem Druck. In ihm geht es um gesellschaftspolitische Umbrüche in Algerien. Darin wird unter anderem den Gründen für das Scheitern des staatssozialistischen Entwicklungsmodells und das Aufkommen des Islamismus in den achtziger und neunziger Jahren nachgegangen.

Bernhard Schmid: Algerien - Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie. Unrastverlag, 18 Euro.