Zwei neue Filme aus Argentinien:

El tren blanco - Der weiße Zug

El abrazo partido beginnt mit verwackelten Bildern, ohne Stativ und mit schnellen Schritten geht es durch ein kleines Einkaufszentrum im Zentrum von Buenos Aires. Im Bild der Hinterkopf von Ariel Makaroff, der die LadenbetreiberInnen kurz vorstellt. Er hilft im Geschäft seiner Mutter für Damenunterwäsche. Es gibt auch einen Frisör, eine Reparaturwerkstatt, eine Bar, einen Import/Export. Die Geschäfte laufen schlecht, die Wirtschaftskrise ist zu spüren. Bei 45 Prozent Arbeitslosigkeit wird wenig gekauft. Ariel versucht, wie viele andere ArgentinierInnen auch, den Pass des europäischen Landes zu bekommen, aus dem seine Familie eingewandert ist. Als er die Papiere von seiner Großmutter haben will, versucht die, ihren Pass zu verbrennen. Sie konnte sich vor der Shoah aus Polen retten. Das Einkaufszentrum liegt mitten im Stadtteil Once neben der Synagoge. In Buenos Aires lebt die größte jüdische Gemeinde Lateinamerikas. In El abrazo partido ist jüdisches Alltagsleben mit einer Selbstverständlichkeit zu sehen, die für Deutschland unvorstellbar ist. Wer bei El abrazo partido bis zum Schluss des Abspannes im Kino bleibt, kann der Oma von Ariel beim Singen eines jiddischen Lidls zuhören. Die eigentliche Spielfilmhandlung dagegen ist recht banal, es geht um das Verhältnis von Ariel zu seinem Vater, der nach Israel ging, als er ein Baby war. Die patriarchale Moral, welche Ariel propagiert, der dazu auch nur seine eigenen Probleme sieht, führt zu einem machistischen Ende. Ob der Regisseur Daniel Burman durch Überzeichnung von Ariels krudem Benehmen und Statements eine Kritik des Publikums befördern will oder Ariels Verhalten einfach als normal abgebildet werden soll? Das möge entscheiden, wer sich den wegen seiner Darstellung des jüdischen Alltags in Buenos Aires sehenswerten Film anschaut. Der Regisseur Daniel Burman, selbst in El Once aufgewachsen, dazu: "Ich versuche den Weg zu zeigen, der zur Konstruktion einer Identität führt, die auf kleinen Anekdoten, Tragödien und komischen Erlebnissen ebenso basiert wie auf Wahrheiten und Lügen". Das gelingt. Nebenbei ist zu sehen, wie ein Angestellter aus Peru oder Bolivien so normal rassistisch behandelt wird, wie das im weißen Mittelklasse-Argentinien üblich ist.

Wenn in dem Einkaufszentrum die Lichter ausgehen, fängt für die ProtagonistInnen von El tren blanco die Arbeit an. Der Dok-Film begleitet cartoñeros, Kartonmenschen, dabei, wie sie im Müll von Buenos Aires nach verkaufbarem, recyclebarem wie Karton suchen. Sie sind am unteren Ende der sozialen Skala angekommen. Jeden Abend um 18 Uhr fährt der weiße Zug aus den Vororten ins Zentrum. Anfangs fuhren die cartoñeros in normalen Zügen mit. Als sich andere Reisende über sie beschwerten, auch wegen der mitgebrachten Karren für das Einsammeln, richtete die private Bahngesellschaft nur für die cartoñeros eine spezielle Bahnverbindung ein: Alte, demolierte Waggons wurden weiß angemalt, fertig war die Extra-Linie. Mittlerweile ist der Andrang so groß, dass ein zweiter Zug eingesetzt werden soll.

Das Filmkollektiv von El tren blanco gibt den cartoñeros die Möglichkeit, für und über sich selbst zu sprechen. Sie verzichten auf jeden Kommentar. In mehreren Episoden begleiten sie cartoñeros auf ihren nächtlichen Arbeitstouren und interviewen sie, wie Alberto: "Ich habe so etwas noch nie zuvor gemacht: Einen Müllsack zu öffnen, zu durchwühlen und auszusuchen - das war ein Schock. Ich glaube aber, dass es mehr Würde hat, so etwas zu tun, als zu stehlen." Oder Hector: "Manchmal hast du noch nicht einmal Geld, um Brot zu kaufen ... Ich bin seit 14 Jahren Witwer und ich arbeite, damit meine Kinder etwas essen können."
Dazwischen sind Fernsehbilder von der sozialen Revolte zu sehen, die sich Ende 2001 für einge Wochen aus Protest gegen die rapide Verschlechterung der Lebensbedingungen entwickelte.

Die Stärke des Filmes ist die Nähe zu den ProtagonistInnen, die Unmittelbarkeit: "Von Anfang an benutzten wir die Kamera dazu, ohne jede Ablenkung die Erlebnisse dieser Menschen zu erzählen und versuchten dabei als Unparteiische die Realität so klar wie möglich herauszufiltern. Das konnten wir durch eine große Anzahl von Drehtagen erreichen, die wir benötigten, um das Vertrauen und die Akzeptanz der cartoñeros zu erlangen", so die FilmmacherInnen Nahuel García, Sheila Pérez Giménez und Ramiro García.
(Gaston Kirsche)

El abrazo partido, Die vergebliche Umarmung. Argentinien 2004, 100 min., OmU

El tren blanco, Der weiße Zug. Argentinien 2003, 80 min., OmU