Kommentar

Filz und Kungelei

Sollte es darum gehen, am Ende des Jahrzehnts nicht nur wie jedes Jahr ein Wort des Jahres, sondern auch eines des Jahrzehnts zu wählen, so wäre "Politikverdrossenheit" dafür ein aussichtsreicher Kandidat. Der "Bürger" traut seinen "Politikern" nicht mehr über den Weg und lässt darob den alle Jubeljahre einmal gezückten Stimmstift stecken oder macht ein dickes Kreuz dort, wo er meint, es könne die Herrschenden besonders schmerzen. Das Ergebnis kennen wir - das Ende der Politik.

Politik ist laut philosophischem Wörterbuch die "Verhandlung der öffentlichen Angelegenheiten". Der Alltag der Politik sieht anders aus. Hier herrschen Filz und Kungelei hinter verschlossenen Türen. Politik ist käuflich, wäscht die andere Hand, wenn die Geld auf ihr "Anderkonto" einzahlt. Streng vertraulich, versteht sich. Die höchste Tugend der Politik ist die Diskretion - und ein Datenschutz für Betrüger und Bestecher, von dem der "gläserne Bürger" nur träumen kann. Gegen die verschleiernden Machenschaften von Kohl & Co. (Schröder und seine Schranzen kann man getrost prophilaktisch mitnennen, denn es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis auch ihre "Anderkonten" auffliegen) war die viel geziehene Stasi ein ungeschickter Waisenknabe.

Aber auch auf der Ebene der Klein-Kieler Kommunalpolitik kann man beobachten, wie Paten "Politik" machen - in dieser LinX wiedermal seitenweise nachvollziehbar. Über den Fraktionszwang bei Abstimmungen im Rat, zu dessen Aufhebung es expliziter Erklärungen bedarf, obwohl auch laut Kommunalverfassung die Abgeordneten ausschließlich ihrem Gewissen verpflichtet sind, mag man sich kaum noch aufregen. Mehr über die taktischen Spielchen, bei denen Fraktionen mit knapper Mehrheit eine grausige Virtuosität entwickeln. Wer mal in einem solchen Parlament gesessen hat, wird es wissen. Die detailierte Kenntnis der Geschäftsordnung ist allemal hilfreicher, seine Interessen durchzusetzen, als so olle Kamellen wie freier Diskurs, Rückgrat und argumentative Überzeugungskraft.

Warum also sollten solche Machenschaften beim "braven Bürger" nicht "Verdrossenheit" aufkommen lassen? Aus zwei Gründen: Erstens: Der "brave Bürger" würde nicht anders kungeln, wenn er denn könnte. Vor dem "Kavaliersdelikt" Steuerhinterziehung bewahrt manchen allein die Tatsache, dass er so wenig hat, dass sich derlei entweder nicht lohnt oder bei der gegenwärtigen Umverteilung von unten nach oben ohnehin unmöglich ist. Zweitens: Die "Politikverdrossenheit" beklagen die Herrschenden nur in Sonntagsreden. Ihre Herrschaft gefährdet sie nicht. Im Gegenteil: Wer sich aus dem "schmutzigen Geschäft" Politik heraushält, überlässt es denen, die dort ihre schmutzige Wäsche und ihre Hände in Unschuld waschen. "Politiker" sind nicht "zum Wohle des Volkes" an der Macht, sondern zu ihrem eigenen und dem ihrer Lobbyisten und "Anderkonten"-Beschicker.

Wenn also das Wort "Politikverdrossenheit" das dieses Jahrzehnts sein sollte, dann ist es an der Zeit, ein anderes zu dem des nächsten Jahrzehnts, vielleicht auch Jahrhunderts zu machen. Es klingt altertümlich, es wirkt abgedroschen, aber es ist das einzige, das die Leidtragenden der "Nicht-mehr-Politik" jenseits von "Verdruss" wieder zu Akteuren der "Verhandlung der öffentlichen Angelegenheiten" machen kann. Es heißt: Revolution.

(jm)