(Un-) soziale Realitäten

16 Jahre soziale Hängematte

Das erste Wochenende einer Obdachlosigkeit

Wohin? An einem verregneten Freitagmittag Mitte November vor vielen Jahren. Vor der Tür einer sozialen Einrichtung nahe dem Bahnhof in Kiel stand eine ärmliche Erscheinung hilflos und verwirrt herum.

Wohin? Ihm klangen noch die eben gehörten Worte in den Ohren: "Obdachlosenasyl". Die Vorstellungen von solchem Ort, besoffene brutale Kerle, die einem an den Kragen wollen, und von Schädlingen befallene Matratzen und Gestank und Verfall. Ist das ein Ort, wo man in seiner inneren Not die nötige Ruhe findet, die einem die Gedanken in dieser Notlage in die richtige Richtung zwingen? Nein, unmöglich. Er dachte an Freunde und Bekannte die er eventuell um Hilfe bitten könnte. Nach kurzer Überlegung wurde der Gedanke verworfen. Der einzige Freund, der ihm einfiel, war auch gerade in einem Wust von Problemen gefangen.

Wohin? Erstmal unterstellen, sich vor dem Regen schützen. Wo? Im Bahnhof.

Die Obdachlosigkeit traf ihn völlig unerwartet. Sein Körper begann, durch den unangenehmen Wind auszukühlen. Er hatte nicht mal eine wärmende Jacke. Der Bahnhof schützte zwar vor der Nässe, jedoch zog ihm der Wind auch im Bahnhof die Lebenswärme aus dem Leib. Mit 120 DM in der Tasche auf zum nächsten Superbilligmarkt. Eine Flasche Whisky und Cola sollten von innen her wärmen. Beim ZOB auf einer Bank wurde der erste Schluck versucht. Doch irgendwie schmeckte das Zeug nicht richtig, und der Körper wehrte sich gegen diesen Trunk. Mit einer Plastiktüte in der Hand wanderte er, bemüht, Normalität auszustrahlen, in der Innenstadt durch die Kaufhäuser. Seine Gedanken, soweit sie nicht verdrängt wurden, kreisten um einen warmen Platz, einen Ort, wo man in Ruhe ausschlafen könnte, ein Fleckchen Erde, wo man in Ruhe über seine Situation nachdenken könnte.

Irgendwann fand er sich auf dem Bahnhof wieder. Eine Fahrkarte Richtung Hamburg wurde gelöst. Es war Abend geworden. Das Ziel, an dem er nie ankommen wollte, der Hamburger Hauptbahnhof, bot auch keine neuen Perspektiven. Doch bot die anderthalbstündige Fahrt über Lübeck Wärme und Ruhe. Und auch ein wenig Normalität.

In einem Abteil der 2. Klasse zog der bisherige Tag an ihm vorbei. Im Landeskrankenhaus in Schleswig, wo er drei Monate lang nach verschiedenen Selbstmordversuchen "beobachtet" worden war, begann der Tag eigentlich "normal". Wie zufällig wurde ihm auf dem Flur mitgeteilt, dass er entlassen sei und nach Kiel fahren solle, "zum Kieler Fenster, die kümmern sich um Sie".

Das Kieler Fenster, eine Hilfseinrichtung für Menschen mit psychischen Schwierigkeiten, wusste von nichts und gab, außer Sprüchen, dass man ihm gegenüber "ungute Gefühle" habe und dass man ihn letztendlich nur tief gedemütigt habe, nichts als den letzten Hinweis auf die Übernachtungsmöglichkeit im Bodelschwingh-Haus. Aber dort konnte und wollte er nicht hingehen.

Der Zug hielt an jeder Milchkanne. Aber was sonst die Nerven strapazierte, wurde nun als Vorteil gesehen. Bis zur Ankunft hatte er ein gesichertes "Heim", und je länger die Fahrt, desto mehr Wärme konnte der Körper für die Nacht speichern. Und das für den Gegenwert einer Fahrkarte. In der Dunkelheit waren hell erleuchtete Häuser in ländlicher Umgebung zu erkennen. Die hellen Fenster strahlten eine vertraute Wärme aus - ein Gefühl von "Zuhause", das so weit entfernt war.

Je näher der Zielbahnhof kam, desto mehr stieg die Angst in ihm auf, wie geht es in den nächsten Stunden weiter, ja, wie die nächsten Minuten verlaufen werden? Wie die nächsten Tage verlaufen würden, daran wagte er gar nicht erst zu denken. Mitreisende verschwendeten keine Blicke an ihn, und das war ihm auch recht so. Irgendwann kam der Kontrolleur und verabschiedete sich mit einem freundlichen Nicken, nachdem er seine Arbeit getan hatte.

Bei der Ankunft in Hamburg trieb ihn keine Eile aus dem Abteil. Nach dem Verlassen des Zuges führte sein erster Weg zur Haupthalle. Er hoffte, in der Masse der Menschen unauffällig unterzugehen, um nicht aufzufallen. Aber dort war es zu zugig, so dass er es nicht lange aushielt. Durch ein großes Portal des Bahnhofes sah er draußen, in der verregneten und kalten Nacht, auch kein lohnendes Ziel.

In einem einer Baustelle ähnlichen Wartesaal fand er Schutz vor dem zugigen Wind. Die Anwesenden waren durchweg Obdachlose, die hier wegen des schlechten Wetters geduldet wurden. Die meisten waren jedoch durch längere Erfahrung auf die Nacht vorbereitet und freuten sich, dass sie in dieser Nacht nicht von der Bahnpolizei vertrieben würden. Die schaute sporadisch vorbei, ließ die Leute aber in Ruhe. Doch die ärmliche Erscheinung kämpfte die ganze Nacht mit der Unterkühlung.

Irgendwann betrat ein junges Mädchen, vielleicht 16 Jahre alt, den Behelfswartesaal. Zuerst nahm sie auf den an den Wänden installierten unbequemen Sitzgelegenheiten Platz. Unsicher durchforschte sie ihre Umgebung. Er spürte bei ihr das gleiche Gefühl der Leere und die gleiche Hilflosigkeit, die ihn selbst lähmte. Aber er war selbst mit sich und seiner Umgebung beschäftigt. Nur gelegentlich gelangte sie in sein Blickfeld. Manchmal dämmerte er für kurze Zeit vor sich hin, der Traum nach einem tiefen Schlaf in einem warmen Bett wurde diese Nacht nicht erfüllt.

Nach einem minutenlangen Schlaf bemerkte er das Mädchen, das nun nicht weit von seinen Füßen kauernd auf dem kalten Boden lag und weinte. Sie weinte, und das machte ihm seine innere Hilflosigkeit noch deutlicher. Auch ihm war zum Heulen zu Mute, dennoch war sein Mitgefühl dem Mädchen gegenüber größer als sein eigenes Elend. Und es zerriss ihn innerlich, dass er ihr nicht helfen konnte.

Das tat ein anderer Mann: Ein junger Türke führte sie zu einem Stuhl und gab ihr eine Wolldecke. So gut es ging, kuschelte sie sich darin ein, wurde ruhiger und schlief ein. Nach einer Dös-Phase war das Mädchen verschwunden. Der junge Türke saß immer noch auf seinem Platz und schlief mit der Decke, die dem Mädchen zuvor Wärme geboten hatte.

Mit dem ersten Zug fuhr der Mann wieder nach Kiel zurück. Zwar fehlte ihm jede Ahnung, wo er eigentlich hin solle, doch auch sonst gab es nirgends ein Ziel. Bis zum späten Mittag lungerte er im Kieler Hauptbahnhof herum. Die Einkaufsstraße und die Kaufhäuser waren, trotz der noch immer schüttenden Regenmassen, voller Menschen. Dort traute er sich nicht hin. Die Angst war groß, auf einen Bekannten zu stoßen und sich bloßzustellen, das innere Elend bloßzulegen. Und immer noch war er bemüht, nicht aufzufallen. Jedesmal, wenn die Bahnpolizei ihren Rundgang machte, befürchtete er, kontrolliert zu werden. Auf verschiedenen Bänken saßen Obdachlose und tranken ihr Bier. Und wenn er in ihre Nähe kam, prosteten sie ihm freundlich zu und luden ihn durch eine freundliche Geste zum Bier ein. Doch mit einer wiederum freundlichen Geste lehnte er ab. Bier wäre das Letzte, was er nun trinken wollte.

Die Zukunft lag wie ein grauer Nebel vor ihm. Er rief bei der Telefonseelsorge an und erhoffte sich, eine Idee oder einen Rat zu erhalten, der ihm ein Stück weiterhelfen könnte. Doch auch dort sah man nur die Möglichkeit, ins Obdachlosenasyl zu gehen. Er kam mit einem jungen Mann ins Gespräch, der sich als Jürgen vorstellte und zur Zeit im Bodelschwingh-Haus übernachtete. Gemeinsam gingen sie durch den Regen dorthin.

Auf dem Flur warteten schon zwei Neuaufnahmen darauf, dass der Leiter der Einrichtung seine Mittagspause beendete, und sie einen Schlafplatz und eine heiße Suppe bekommen würden. Pünktlich um 16 Uhr erschien der Chef und empfing die Wartenden mit den bollernden Worten: "Aber nur für eine Nacht."

Die Personalien wurden aufgenommen, und jedem wurde ein Bett zugeteilt. Die ärmliche Erscheinung durfte im Flurbereich neben einer zugigen Fensterfront übernachten. Später wurde eine Terrine heiße Linsensuppe gereicht, die ihm richtig gut tat, und er beendete den Tag mit Gesprächen und einigen Runden Skat mit Männern, die z.T. schon Jahre dort lebten. Mit Skat wurde auch der ganze Sonntag herumgebracht. Das lenkte ihn wenigstens für einen Tag von seinen Sorgen ab und von der Ungewissheit der nächsten Tage.

Über Jahre "wohnte" die ärmliche Erscheinung im Bodelschwingh-Haus und dies änderte viele Ansichten über "Arme" und solche Notunterkünfte. Doch dazu später mehr.

(Gerd Czerwinski)