Anti-Militarismus

Dokumentiert:

Angelika Beer: Offener Brief an die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen

Liebe Freundinnen und Freunde, ich schreibe Euch zum Krieg im Kosovo. Er beschäftigt uns die letzten Wochen und Monate - aber insbesondere, seitdem Milosevic alle diplomatischen Verhandlungen scheitern ließ und die NATO die Drohung der Luftschläge gegen serbische Militärstellungen mit deutscher Beteiligung umsetzt. Im folgenden möchte ich versuchen zu verdeutlichen, warum ich mich als Abgeordnete und Mitglied der grünen Regierungsfraktion in Bonn nicht gegen das Eingreifen der NATO ausgesprochen habe und in welchem tiefen inneren Konflikt ich mich befinde.

Zunächst mochte ich aus meiner Bundestagsrede vom 25.3.99 zitieren: "Ich glaube, für alle Mitglieder meiner Fraktion sagen zu können, daß die Entscheidungen der letzten Stunden für uns schwierig waren, daß aber die Mehrheit meiner Fraktion nach vielen Diskussionen dem Bundeskanzler, seiner gestrigen Erklärung und der Erklärung des Bundesverteidigungsministers heute die volle Unterstützung gewähren ... Ich hoffe, daß diejenigen, die uns oder mich persönlich, wie in den letzten Stunden geschehen, als Kriegstreiber bezeichnen, endlich die Antwort auf meine Frage geben, was denn die Alternative zu dieser schwierigen Entscheidung gewesen wäre."

Wir haben eine politische Entscheidung getroffen. Der formale Bundestagsbeschluß zur Beteiligung an NATO-Luftangriffen wurde bereits im Oktober '98 - ohne meine Zustimmung - gefaßt. Letzte Woche aber - nach dem Scheitern des Friedensvertrages von Rambouillet - gab es nur noch die Wahl zwischen zwei Optionen - nämlich dem Ignorieren der gezielten Säuberungen und dem Zusammenziehen serbischer Truppen im Kosovo oder aber der Einschaltung der NATO - mit der Hoffnung, daß Milosevic doch noch unterschreibt.

Seit zehn Jahren gibt es einen gewalttätigen Konflikt im Kosovo. Seit zehn Jahren haben die europäischen Staaten und die Vereinten Nationen nicht alles unternommen, um mit Mitteln friedlicher Konfliktlösung gemäß Artikel 41 der UN-Charta diesem Konflikt zu begegnen. Seit über einem Jahr findet mit kleinen Unterbrechungen erneut ein Krieg in Europa statt: der des Diktators Milosevic gegen die kosovo-albanische Bevölkerung und die UCK.

Seit geraumer Zeit wissen wir um die Probleme: Insbesondere unsere Partei hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf die Einhaltung von Völkerrecht zu drängen. Gleichzeitig wissen wir um die Defizite einer dringend strukturell reformbedürftigen UN. Wir wissen um die Einforderungen von völkerrechtlichen Prinzipien, die sich im konkreten Fall scheinbar gegenseitig ausschließen: Die UN-Charta nennt das Recht auf Souveränität eines Staates, auf das sich Milosevic berufen kann, das Recht auf Selbstbestimmung, das die Kosovo-Albaner einfordern, und die UN-Charta schreibt die Wahrung der Menschenrechte vor, die im Kosovo mit Füßen getreten werden.

Wir wissen um die Probleme der in Abstimmungs- und Entscheidungsfragen schwerfälligen UNO: Im Sicherheitsrat ist ein Konsens notwendig, das Veto kann klare Entscheidungen verhindern, und für die Durchführung von größeren Operationen ist die UNO zudem auf Unterstützung ihrer Mitgliedsstaaten angewiesen. Die NATO hingegen ist verhältnismäßig effizient, und ihre Mitglieder können sich eher auf einen Konsens einigen. Unsere Sorge um eine zum Weltpolizisten mutierende NATO, die die Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der Vereinten Nationen zunehmend lähmt, ist bekannt.

Wir wissen, daß Krieg auch nicht als "ultima ratio" vertretbar ist, sondern nur, wenn wir keinen anderen Ausweg mehr wissen. Wir wissen, daß in den vergangenen Jahren die Bemühungen um eine friedliche Lösung des sich abzeichnenden Konfliktes nichts ausreichend waren. Das gesamte Spektrum möglicher Mittel ziviler Konfliktlösung wurde nicht einmal anzuwenden versucht.

Wir wissen aber auch, daß wir die Zeit nicht zurückdrehen können, um all die Maßnahmen, die für uns denkbar gewesen wären, durchzuführen. Am Ende von Rambouillet herrschte bei mir Fassungslosigkeit. Frieden kann nur politisch erzielt werden - und es war offensichtlich, daß Milosevic keinen Frieden wollte. Er hat die Gespräche durch seine Blockadepolitik scheitern lassen. Ein unkalkulierbarer Kriegsverbrecher, der gewillt ist, seine Macht zu erhalten, indem er über Leichen geht. Vor ethnischen "Säuberungen" wegschauen - oder den Versuch unternehmen, Friedensbereitschaft mit militärischen Mitteln zu erzwingen? Ein anderer Weg stand uns zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung. (Die Frage, ob die NATO sich nicht selbst in die Eskalationsspirale gebracht hat, stelle ich zurück - sie hätte im letzten Herbst duskutiert werden müssen.) Nach Stunden, Nächten der Abwägung, der Suche nach einem nicht vorhandenen Ausweg mußte ich mich entscheiden. In einer Regierung muß man hier und heute handeln, kann Verantwortung nicht delegieren. Wir sind, ich bin in der Verantwortung - jede Stunde unseres Handelns. Und wir werden auch für die Folgen unseres Handelns die Verantwortung zu übernehmen haben.

Ich kann Eure Verzweifelung verstehen und auch die Wut, die einige von Euch in sich tragen. Ich denke aber auch, daß es auf der anderen Seite auch nicht zur Lösung des Dilemmas, in dem wir uns befinden, beiträgt, wenn die einen als "Kriegstreiber" bezeichnet oder eine einfache Ablehnung oder Verurteilung unseres Handelns ausgesprochen wird. Beschimpfungen und Sarkasmus mögen es für einen selbst einfacher machen, mit der Situation umzugehen; für die Menschen im Kosovo ergibt sich dadurch aber sicher nicht ein Bruchteil einer Chance. Laßt uns eine gewisse Hilflosigkeit untereinander anerkennen. Laßt uns den Dialog suchen. Die Entscheidung so mancher Friedensgefährten der letzten Jahre, den Grünen nun aus Protest den Rücken zu kehren, schmerzt nicht nur persönlich, sondern ist ein Verlust für unsere Partei. Die Stimmen von PazifistInnen und AntimilitaristInnen in den Grünen dürfen nicht verstummen! Wir brauchen sie mehr denn je, um nach diesem Krieg eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten, die nie wieder so lange wartet, bis Diplomatie zum Scheitern verurteilt ist.

Unabhängig davon, ob Ihr meine Entscheidung nachvollziehen und akzeptieren könnt, ob Ihr meine innere Zerrissenheit zwischen der Verantwortung als Abgeordnete und meiner eigenen Überzeugung, daß Krieg kein Mittel der Politik sein kann, annehmen könnt, hoffe ich, daß wir alle nicht vergessen, was Gegenstand unserer Entscheidung war. Es ging und geht um Menschenleben, es geht um massenhafte Menschenrechtsverletzungen eines Diktators Milosevic, der skrupellos "ethnische Säuberungen" an der albanischen Bevölkerung betreibt. Die Glaubwürdigkeit unserer Regierung und der EU stellt sich auch im Hinblick auf andere Regionen. Nur kurz will ich in diesem Zusammenhang auf die Verfolgungs- und Unterdrückungspolitik in der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei hinweisen.

Vor diesem Hintergrund, daß seit Sommer letzten Jahres eine halbe Million und seit letztem Wochenende zigtausende Menschen auf der Flucht sind, bitte ich Euch eindringlich, daß wir alle unsere Kräfte bündeln und für diese Menschen Initiative ergreifen. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeit unserer Entscheidung als Partei, die aus der Friedensbewegung hervorgegangen ist, vor dem Hintergrund völkerrechtlich schwerwiegender Bedenken und legitimer Einwände gegen den NATO-Militärschlag möchte ich Euch an dieser Stelle ganz klar mitteilen, daß diese Probleme für mich im Moment nicht ausschlaggebend waren. Denn im Kosovo finden jetzt im Moment, während ich dies schreibe, grausame Vertreibungen und Morde statt, und wir müssen jetzt versuchen, diesen Menschen mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, zu helfen.

Alle Defizite, alle Probleme, die wir mit dem gegenwärtigen Zustand, mit der Tatsache, daß deutsche Soldaten erstmalig nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an einem Militäreinsatz beteiligt sind und wir auch für sie Verantwortung übernommen haben, müssen diskutiert werden. Ich bitte Euch aber inständig darum, diese Diskussion nicht jetzt mit der Erwartung einer Lösung unserer Probleme zu beginnen. Vorrangig geht es jetzt um die konkreten Probleme der Kosovo-Albaner, denen Vertreibung, Tod und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen drohen, die in Flüchtlingslagern in den nächsten Tagen und Wochen dringend humanitäre Hilfe brauchen.

Es geht um konkrete Hilfe und um politische Hilfe. Wir alle wissen, daß Frieden im Kosovo nicht eingebombt werden kann. Uns allen ist doch klar, daß nur eine politische Lösung Frieden überhaupt am Horizont erscheinen lassen kann. Hier will ich meine Kraft einsetzen. Wir haben uns als rot-grüne Regierung für den deutschen Militäreinsatz ausgesprochen - aber dadurch keineswegs die Wege diplomatischer und nichtmilitärischer Bemühungen und der Suche nach einer friedlichen Lösung des Konfliktes verlassen. Wir haben angesichts der eingangs beschriebenen Entscheidungssituation einen anderen Pfad eingeschlagen, von dem wir nicht wissen, wohin er uns führen wird - das will ich Euch ganz ehrlich sagen.

Genauso sehr, wie ich mit der Zustimmung für den Einsatz gegen ein "Augen Verschließen" vor dem drohenden Völkermord gestimmt habe, erwarte ich, daß wir mit dieser Situation auch jetzt offen und bewußt umgehen. Dazu gehört, daß wir nicht in eine Logik militärischer Eskalation verfallen dürfen und als einziges Mittel die Schraube der Gewalt immer fester ziehen. Dazu gehört auch zu verhindern, daß Forderungen nach einseitiger Aufrüstung der UCK Realität werden. Und nicht zuletzt, vehement die Bemühungen um diplomatischen Kontakt zu honorieren und den Boden dafür zu bereiten, daß Kofi Annan, der UN-Generalsekretär, in eine friedenspolitische Initiative einbezogen wird.

Insbesondere gilt es auch - und das betrifft insbesondere Euch vor Ort -, die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Kosovo politisch zu begleiten. Hier wird eine wichtige innenpolitische Aufgabe auf uns zukommen, denn bereits jetzt versucht Bayerns Innenminister Beckstein, für eine europaweite gerechte Verteilung der "Lasten" zu werben und das Flüchtlingsthema in gewohnter Manier negativ zu besetzen.

Bitte erkennt, daß sich unser grüner Außenminister mit aller Kraft beständig bemüht, weitere Chancen für eine politische Lösung zu finden. Der Schlüssel zum Frieden liegt bei Milosevic und in unseren ernsthaften Anstrengungen, die diplomatische und friedenspolitische Option stets erneut zu prüfen und dies auch strikt auf allen Ebenen einzufordern. Wer heute aber fordert, die NATO solle ihren Einsatz bedingungslos beenden, geht das Risiko ein, Milosevic zu stärken, die europäische Politik zu schwächen und die Soldaten, die darauf warten, einen Friedensvertrag abzusichern, zu verunsichern. Und bitte stellt Euch die Frage, was die Folge des Rückzugs der NATO wäre, wenn Milosevic dadurch freie Hand für sein Morden bekäme.

Noch einmal: Wir dürfen nicht der Logik der Eskalation verfallen. Wir müssen uns die politische Initiative erhalten, wir müssen jenseits der Bomben nach Lösungen suchen.

Es ist alles andere als eine einfache Situation - für alle von uns. Und am meisten gilt dies für die Betroffenen im Kosovo und ihre Angehörigen oder die Vertriebenen auf der Flucht.

(Angelika Beer, 31.3.99)