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Protestbewegung in Frankreich:

“Wegwerf-Arbeiter”

Die französische Regierung hat ein Gesetz für die Einstellung junger Erwachsener vorgelegt, mit der für die Menschen bis 26 der Kündigungsschutz praktisch abgeschafft wird. Seit Wochen hagelt es dagegen massive Proteste der Schüler, Studenten und auch der Gewerkschaften. Mitte März wurde die renommierte Sorbonne-Universität in Paris ziemlich gewaltsam von Polizisten geräumt.

Doch das fachte den Widerstand nur weiter an. Am Samstag, den 19. März, gingen in Paris mindestens 200.000 Menschen. Die Polizei sprach von 80.000, die Veranstalter von 350.000 Teilnehmern. Landesweit dürften eine bis anderthalb Millionen gewesen sein. Schon zwei Tage vorher waren frankreichweit 300.000 bis 500.000 Menschen auf die Straße gegangen. Obwohl am Donnerstag ausschließlich die Studierenden- und Oberschülergewerkschaften und studentische Streikkomitees, die aus Vollversammlungen hervorgingen, dazu aufgerufen hatten. Am Samstag kamen auch die Gewerkschaftsverbände hinzu.

Tatsächlich waren alle Generationen vertreten. Die streikenden Oberschüler vorne, die "Eltern gegen Prekarität (soziale Unsicherheit)"  weiter hinten. Beim ersten Studentenblock ertönt Rapmusik aus den Lautsprecherwagen, in der Mitte der Demo scharen Gruppen von Trommlern zahlreiche tänzelnde Demonstranten um sich. Alles in allem schwingt ein Hauch von Karneval mit. Zahlreiche junge Demonstranten haben sich in blaue oder schwarze Müllsäcke eingehüllt. Eine Gruppe von Studentinnen erklärte auf Nachfrage, das solle symbolisieren, dass die jüngeren Leute zu "Wegwerf-Arbeitern" gemacht werden. Nach der Demonstration kam es in Paris zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, als diese versuchte die Menschenmenge nach Abschluss der Kundgebung mit Schlagstöcken und Pfeffergas zu zerstreuen. Am darauf folgenden Sonntag kam es in verscheidenen Städten zu weiteren Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. Außerdem gab es verschiedene gewalttätige Übergriffe von militanten Neofaschisten, die mit Helmen und Schlagstöcken bewaffnet, zum Teil sogar mit Eisenrohren, die Protestierenden angriffen.

Bei Redaktionsschluss war offen, ob es in der Woche des Erscheinens dieser Ausgabe zu einem Generalstreik kommen würde. Verschiedene Gewerkschaften hatten der Regierung ein Ultimatum gestellt: Bis Montag abend sollte sie das strittige Projekt zurücknehmen. Andernfalls würden härtere Kampfmaßnahmen ergriffen.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren nahmen führende Gewerkschaftsvertreter dabei am Samstag dabei das Wort „Generalstreik“ in den Mund, auch wenn die linken Kräfte in den großen Gewerkschaften ihren Vorständen noch nicht sehr viel Kampfeswillen zutrauen. Eines der Probleme ist, dass in Frankreich zwar (anders als in Deutschland) das Streikrecht zu jedem Zeitpunkt durch die abhängig Beschäftigten – auch ohne Unterstützung oder Aufruf durch eine Gewerkschaft – ausgeübt werden kann.

Denn das Streikrecht ist in Frankreich als eigenes Individualrecht der Arbeitnehmer, und nicht nur als Organisationsrecht des Verbands, anerkannt. Aber im Unterschied zum Privatsektor sind Arbeitsniederlegungen in den öffentlichen Diensten vorab anmeldungspflichtig. Eine Vorwarnung muss fünf Tage vor Anfang der Streikbewegung bei der zuständigen Stelle hinterlegt werden. Bei einer Entscheidung zugunsten eines Streiks am Montag abend wäre es demnach, rein rechtlich, für den Donnerstag zu spät – also den 23. März, für den die „Nationale Streikkoordination der Studierenden, jungen Arbeitenden und Prekären“ zu   Arbeits- niederlegungen durch die abhängig Beschäftigten aufgerufen hat. Ohnehin favorisiert die CGT-Führung dem Vernehmen nach eher einen Streiktermin eine Woche später, aber viele Kritiker in den eigenen Reihen haben Angst, dass die Dynamik zwischenzeitlich verpuffen würde. Vorsorglich habe viele Gewerkschaftsstrukturen, etwa bei den eher linken Basisgewerkschaften SUD-Solidaires und der größten Lehrergewerkschaft FSU, schon vorher „präventiv“ Streikankündigungen für den Donnerstag hinterlegt.

(Bernhard Schmid, Paris. Von der Redaktion stark gekürzt und komprimiert.)