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Streiks und Demonstrationen in Frankreich:

ENORM – Und jetzt?

Allein ein Wort kann das Menschenmeer der französischen Demonstrationen 28. April beschreiben: enorm. Die CGT, die nicht nur Mitveranstalterin, sondern eine der Haupttriebkräfte bei der Mobilisierung war, sprach von 700.000 Demonstranten in Paris und 3 Millionen frankreichweit. Das wäre auf nationaler Ebene die größte Teilnehmerzahl, die je überhaupt registriert wurde. Dies bleibt auch dann so, wenn man berücksichtigt, dass die Polizei, deren Angaben fast immer untertrieben sind, von 1,1 Millionen Demonstranten spricht und der Realitätssinn gebietet, von insgesamt ungefähr zwei Millionen in ganz Frankreich auszugehen. Vergleicht man gegenüber früheren Mobilisierungen jeweils Veranstalterangaben mit Veranstalterangaben einerseits und die jeweiligen Zahlen des Innenministeriums untereinander auf der anderen Seite, dann bleibt es dabei: Noch nie waren so viele Demonstranten auf einmal unterwegs. Sie forderten die Rücknahme des „Ersteinstellungsvertrags“ oder CPE (Contrat première embauche), der es erlaubt, Jugendliche und junge Erwachsene einzustellen, die während zweier Jahre keinen Kündigungsschutz genießen.

Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte der Pariser Demonstranten waren dabei Jugendliche und Studierende, ein weiteres Drittel war bei der CGT organisiert, dem postkommunistischen, größten Gewerkschaftsdachverband in Frankreich. Der Rest verteilt sich auf kleinere Gewerkschaftsblöcke, auf die Eltern von unter 26jährigen – die sich als solche auswiesen und oft noch mit schulpflichtigen Kindern kamen, da in zahlreichen Schulen streikbedingt der Unterricht ausfiel –, Arbeitslose und prekär Beschäftigte.

Bilder von Bernhard Schmidt von früheren Aktionstagen




Welche Fortsetzung des Konflikts ?

Die große Frage lautet, wie es nach dem immensen Mobilisierungserfolg  weiter geht. Kommt es zum von Vielen angesprochenen Generalstreik, falls die Regierung hart bleibt ? Oder begnügen sich die Gewerkschaftsführungen wieder, wie beim Konflikt um die „Rentenreform“ von 2003, mit ein paar Aktionstagen in wöchentlichem Abstand, die nichts blockieren und durch die Regierung letztendlich übergangen werden?

Der konservative Premierminister Dominique de Villepin ist nach wie vor nicht gewillt, den Gesetzestext, der die Rechtsgrundlage für den CPE schafft, zurückzuziehen. Allenfalls ist er bereit, zwar keine Begründungspflicht für Kündigungen – die juristische Konsequenzen hätte, da das Kündigungsmotiv gerichtlich nachprüfbar wäre – in den „Ersteinstellungsvertrag“ aufzunehmen, aber die Arbeitgeber zu einem „Gespräch“ mit dem Betroffenen zu verpflichten, falls ein CPE aufgekündigt wird.

Die fünf größten und institutionalisierten Gewerkschaftsbünde hatten am Abendnach den Demonstrationen in einem gemeinsamen Brief an Staatspräsident Chirac: Dieser solle die Unterschrift unter das Gesetz vorläufig verweigern und es zu einer weiteren Beratung in die Nationalversammlung zurückgeben. (Chirac hat diesen Appell nicht erhört, sondern hat kurz vor Redaktionsschluss unterschrieben, die Red.) Um dort eine Sachdiskussion zu ermöglichen, aber auch, um den CPE aus dem „Gesetz für Chancengleichheit“ getauften Gesetzespaket herauszunehmen. Dies ist absolut nicht im Sinne der radikaleren Kräfte in der Protestbewegung, und namentlich der „Koordination der Studierenden, Oberschüler und jungen Prekären gegen den CPE“. Sie fordert die Zurückweisung des gesamten Gesetzespakets, das neben dem umstrittenen CPE auch noch eine Reihe von Sonderbestimmungen für die Banlieue-Jugend enthält. So ermöglicht es die Kollektivbestrafung von Familien – im Regelfall aus den sozialen Unterschichten –, deren Jugendliche straffällig wurden, durch den Entzug von Sozialleistungen. Ferner legalisiert das Gesetzespaket den Eintritt ins Arbeitsleben mit 14 und lässt Nachtarbeit sowie Wochenenddienst ab 15 zu.

Von Anfang an herrscht ein Legitimitätskonflikt zwischen zwei Akteuren innerhalb der jüngeren Protestbewegung. Auf der einen Seite stehen die etablierten Gewerk- haftsapparate, die eine breite soziale Basis unter abhängig Beschäftigten haben, aber die in Gipfeltreffen ihrer jeweiligen Spitzen über ihre nächsten Schritte  ent- scheiden. Andererseits gibt es die Streikkoordination, die aus dem studentischen Selbstorganisierungsprozess in Vollversammlungen und Streikkomitees hervorging. In ihr machen Angehörige der sozialdemokratischen Studierendengewerkschaft UNEF rund ein Drittel, und radikale Linke unterschiedlicher Couleur gut die Hälfte der Delegiertenmandate aus. Bislang ergriff auf den verschiedenen Stufen des Konflikts gewöhnlich die Streikkoordination die Initiative, und die  Gewerkschafts- apparate schlugen daraufhin ein Alternativdatum vor. Die Koordination wollte am 16. März, einem Donnerstag, auf die Straße gehen? Die Gewerkschaftsspitzen bevorzugten den 18. März, da sie an einem Samstag nicht zum Streik aufrufen mussten. Die Koordination wollte einen landesweiten Aufruf zu Arbeitsniederlegungen am 23. März? Die Gewerkschaftsführungen favorisierten einen solchen Aufruf an die Lohnabhängigen für den 28. März.

Auf dem Plakat steht „Unter dem Pflaster liegt der Strand“. Losung aus dem Pariser Mai 1968

Die studentische Koordination hat unterdessen dazu aufgerufen,  Bahnhöfe und Hauptverkehrsstraben zu blockieren, um zu beginnen, den kapitalistischen  „Normalbetrieb“ des Alltags lahm zu legen, falls die Regierung auf ihrer Position beharrt. In Rennes warteten die Studierenden nicht lange, sondern blockierten gleich am tag nach den großen Demos morgen die wichtigsten Zufahrtswege der westfranzösischen Regionalhauptstadt. In einigen Départements, etwa dem Bezirk um Nantes – einer alten anarchosyndikalistischen Hochburg mit bis heute starker kämpferischer Gewerkschaftstradition –, rufen übergewerkschaftliche Aktionskomitees auch seit mehreren Tagen zu einer unbefristeten Fortsetzung der Ausstände vom 28. auf. So lange, bis die Regierung nachgibt. In der Chemieindustrie, wo die CGT Chemie sich ähnlich positioniert, wurden am Mittwoch Produktionsrückgänge in den Raffinerien verzeichnet.

Ein Thatcher-Szenario?

Die konservative Regierung ihrerseits setzt offenkundig auf eine Strategie des „Aussitzens“. Sie dürfte darauf bauen, dass am 8. April die zweiwöchigen Universitätsferien im Großraum Paris beginnen, und zeitversetzt dann auch in den anderen Regionen. Falls bis dahin die Mobilisierung den CPE nicht kippen konnte, droht die Gefahr, dass die studentische Mobilisierung sich dann verläuft – zumal nach der Ferienperiode die Jahresabschlussprüfungen näher rücken und viele Studierende zu fürchten beginnen, dass ihnen eine Fortsetzung des Ausstands ein ganzes Jahr kosten könnte und etwa ihr Stipendium in Gefahr bringt. Hat der Ausstand von Arbeitern und Angestellten keinen größeren Effekt, so dürfte es unmöglich sein, dass Oberschüler und Studierende die Mobilisierung allein weiter tragen. In Rennes, von wo der Hochschulstreik ausging, dauert er seit nunmehr sieben Wochen ohne Unterbrechung an. Dies dürfte die Regierung in ihr Kalkül einbeziehen.

Sofern sie die Kraftprobe um den CPE durchhält (auch wenn sie in dieser Frage zwei Drittel der öffentlichen Meinung gegen sich hat), könnte sie versucht sein, ähnlich wie Margaret Thatcher in den 80er Jahren den Gewerkschaften eine entscheidende Niederlage beizubringen. Danach lässt sich dann sehr vieles ohne größere Widerstände durchdrücken.

(Bernhard Schmid, Paris, redaktionell gekürzt)

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