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„Hartz-IV-Fortentwicklung“                                                                                              

Alles Missbrauch und Betrug

Das ab Anfang August geltende „Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz“ macht aus dem Sozialgesetzbuch ein Strafgesetzbuch, sagen gewerkschaftliche Arbeitslosengruppen in Berlin. Mit großer Mehrheit hat der Bundestag Anfang Juni beschlossen, den Druck auf Erwerbslose, die Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen, zu erhöhen. 393 Abgeordnete stimmten dem "Hartz-IV-Fortentwicklungesetz" zu, das am 7. Juli vom Bundesrat abgesegnet wurde und bereits Anfang August in Kraft treten soll. 150 Abgeordnete stimmten gegen das Gesetz, 14 enthielten sich der Stimme. Die Bundesregierung verspricht sich von den beschlossenen Maßnahmen Einsparungen um 1,5 Milliarden Euro jährlich.

Mehr Sanktionen statt neuer Arbeitsplätze

Das "Sozialgesetzbuch wird zum Strafgesetzbuch" heißt es dazu in einer Stellungnahme der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen in Berlin. Gemeint ist an erster Stelle ein Sanktionspaket, das im Fall von "Pflichtverletzung" eine stufenweise Kürzung der Leistungen bis zum vollständigen Entzug vorsieht. Im Klartext: Wer innerhalb eines Jahres drei Mal ein Arbeitsangebot oder eine Qualifizierungsmaßnahme ablehnt, soll auf Nulldiät gesetzt werden. Woher all die nötigen Arbeitsangebote für die 2,9 von 5,2 Millionen ALG II-Empfängern, die dem Arbeitsmarkt laut Statistik zur Verfügung stehen, kommen sollen, wird in dem Gesetz freilich nicht erwähnt.

"Das ist doch eine reine Luftnummer", höhnte denn auch ein Langzeitarbeitsloser am Rand der Demonstration gegen die so genannten Sozialreformen am 3. Juni in Berlin. "In 13 Jahren habe ich ein Arbeitsangebot bekommen. Bierfässer sollte ich da transportieren.  Da- gegen hätte ich nichts einzuwenden, das ist ehrliche Arbeit, aber mit meinem Rücken kann ich das nicht mehr machen, das hat auch der Arzt bestätigt." Nach Einführung der Hartz-Reformen habe er an einer einzigen Qualifizierung teilnehmen können, berichtete der Mann weiter, dort sei ihm vermittelt worden, wie man Bewerbungsschreiben verfasst.

Weitere Einsparungen erhofft sich die Bundesregierung durch eine verstärkte Bekämpfung von Leistungsmissbrauch. Mindestens 1,2 Milliarden Euro sollen durch den flächendeckenden Einsatz von Außen- und Prüfdiensten bei den Jobcentern zusammenkommen. Nach Anfragen verschiedener Medien wies die Nürnberger Bundesagentur für Arbeit jedoch bereits jetzt darauf hin, dass bislang lediglich 26 Millionen Euro an Leistungen zu Unrecht ausgezahlt wurden und nun zurück gefordert würden. "Unsere Zahlen können Annahmen von 10, 20 oder 25 Prozent an Betrugsfällen, wie sie in Berlin gelegentlich genannt werden, in keiner Weise stützen", wurde ein Sprecher der Agentur in der Thüringer Allgemeinen zitiert.

Beweislast umgedreht

Heftig kritisiert werden auch die neuen Regelungen für eheähnliche Gemeinschaften und Stiefeltern. Bisher mussten im Zweifel die Ämter beweisen, dass eine eheähnliche Gemeinschaft besteht und somit Leistungsbezieher für einander aufkommen müssen. Das neue Hartz-IV-Gesetz dreht die Beweislast um: Künftig sollen Ämter davon ausgehen, dass eine eheähnliche Gemeinschaft besteht, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben, mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder befugt sind über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen. "Im Gesetz findet sich kein Wort darüber, wie Betroffene die Vermutung widerlegen können", bemängelt die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen.  Bundes- sozialrichter Ulrich Wenner hält diese Änderungen sogar für "verfassungsrechtlich problematisch".

 (csk)