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Krieg im Libanon

Es gibt in diesem Krieg keine Guten

Auch wenn der amerikanische Anarchist Noam Chomsky und einige Linke sich schon festgelegt und Israel zum Hauptschuldigen dieses Konflikts erklärt haben, das alte Schema „Gut gegen Böse, Unterdrücker gegen Freiheitskämpfer“ taugt nicht. Denkt man die Argumentationskette Chomsky’s von Ursache und Wirkung konsequent zu Ende, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass die Schuld Israels letztendlich in seiner bloßen Existenz besteht. Sicher hätte Israel schon lange im Vorfeld einiges tun können und müssen, um es gar nicht erst zu diesem Krieg kommen zu lassen, z. B. durch direkte Gespräche mit der gewählten Hamas-Regierung. Bomben, Panzer und Seeblockaden sind genau so wenig geeignet, entführte Soldaten zu finden wie Selbstmordattentate und der Raketenbeschuss israelischer Städte die Situation der Palästinenser verbessern. Zudem hat sich Israel mit dem Beschuss eines UN-Postens, der das Leben der vier Beobachter forderte, der Bombardierung des libanesischen Dorfes Kana mit mindestens 28 Toten, darunter 16 Kindern, und dem Luftangriff auf einen Landwirtschaftsbetrieb bei Al-Kaa (mindestens 27 Opfer) keinen Gefallen getan. Selbst wenn es zutrifft, dass der UN-Posten angeblich trotz telefonischer Kontakte versehentlich beschossen wurde  und aus Kana Raketenangriffe erfolgten, unterscheiden sich diese Aktionen durch nichts vom Terror der Islamisten.

Präsident Ahmadineschad und Hisbollah-Chef Nasrallah tragen mit ihren Erklärungen, Israel von der Land-
karte tilgen zu wollen, entscheidend dazu bei, dass die Ängste der Israelis vor ihren Nachbarn nicht nur bestätigt, sondern noch verstärkt werden. Die verbreitete Annahme, dass ein einziger verlorener Krieg die Existenz Israels beenden wird, ist leider sehr realistisch. Nur so ist zu verstehen, dass der jetzige Feldzug gegen die Hisbollah trotz der Opfer unter der libanesischen Zivilbevölkerung bei einer übergroßen Mehrheit der Israelis populär ist.

Trümmerlandschaften, aus denen Leichen ragen. Ärzte, die sich ihre Verzweiflung aus dem Leib schreien, weil sie dem Ansturm Verwundeter nicht mehr standhalten können. Flüchtlinge, die sich in kilometerlangen Trecks einen Weg durch die zerstörten Straßen bahnen. Hunderte von Toten, Tausende von Verletzten, eine Dreiviertelmillion Menschen auf der Flucht – das sind die erschreckenden Bilder aus dem Libanon nach fast vier Wochen Krieg. Derweil schießt Hisbollah nahezu unbeeindruckt weiter und erhält, als  Wider- standsorganisation frenetisch bejubelt, mit jedem weiteren Kampftag Zulauf von jungen Männern. Der fortdauernde Krieg spielt den Radikalislamisten in die Hände.

Auch aus Israel erreichen uns furchtbare Bilder. Kinderleichen in Haifa, zerschmettert von Geschossen Hisbollahs, Krankenschwestern, die um das Überleben von Verwundeten ringen, Tausende Menschen, die Schutz in den Bunkern oder im Süden des Landes suchen. In beiden Ländern ist das Elend groß, doch eine humanitäre Katastrophe bahnt sich im Libanon an. Israel hat als Antwort auf Hisbollahs Raketenterror und die Entführung von zwei Soldaten seine gewaltige Militärmaschine in Bewegung gesetzt. Sie walzt Wohn-
viertel nieder und tötet viele Zivilisten – auch weil Hisbollah gegen alles Völkerrecht gezielt aus Häusern und dicht besiedelten Gebieten feuert.Trotz- dem sind Israels Handlungen überzogen und brechen ihrerseits das Völkerrecht. Diesem mörderischen Kampf darf die  internationale Gemeinschaft nicht weiter zusehen, viel zu lange haben die Amerikaner den Israelis freie Hand gelassen. Um die schlimmste Not zu lindern, muss jetzt sofort die Stunde der Waffenruhe schlagen. Dann unverzüglich die Stunde der humanitären Helfer. Und am Ende kommt die Zeit einer internationalen Friedenstruppe.

Die Frage, wer Angreifer und wer Angegriffener ist, lässt sich in dieser Region oft nur schwer beantworten. Hier gibt es selten die eine Wahrheit. Doch dieses Mal steht zumindest so viel fest: Israel hat sich 2000 aus dem Libanon zurückgezogen, während die libanesisch-islamistische Hisbollah keine Ruhe gab. Israel hat im Sommer 2005 auch den Gaza-Streifen aufgegeben, doch Hamas & Co schickten pausenlos Kassam-
Raketen hinterher. In der Folge marschierte die israelische Armee nach Belieben dort ein und wieder aus

Es wäre hilfreich gewesen, manche Kritiker des Libanon-Krieges und der hartleibigen israelischen Besatzungspolitik hätten in den vergangenen Monaten ebenso die Angriffe von Hisbollah und Hamas gegeißelt. Man muss sich zum besseren Verständnis immer wieder vor Augen führen: Israel, diese atomar bewaffnete, eigentlich unbezwingbare Vormacht, ein Staat, der seinen Menschen ein Mindestmaß an demokratischen Rechten zubilligt in einer autoritärtristen Region, fürchtet gleichwohl stets um seine Existenz. Inmitten der dunklen Machtspiele Irans und Syriens, des Raketenhagels und der Vernichtungs-
rhetorik von Hamas, Hisbollah und Iran ist das auch nicht verwunderlich.

Trotz alledem sprengt Israel im Libanon die Grenzen seines legitimen Selbstverteidigungsrechts. Zivil-
personen sind zu schützen, sagt das Völkerrecht, und die Angriffe müssen verhältnismäßig bleiben. Das sind keine weltfremden Juristenregeln, sondern es ist das ethische Minimum in einem Krieg. Die Weltgemein-
schaft selbst hat sich dieses ‚Recht im Kriege’ auferlegt. Anders als Hisbollah wird Israel allerdings niemand vorwerfen können, es mache gezielt Jagd auf Zivilisten, es warnt diese sogar per Flugblatt vor. Doch es nimmt deren Tod und Verwundung massenhaft in Kauf. Für jede Rakete auf Israel, sagen die Militärs in Tel Aviv, würden sie bis zu zehn mehrstöckige Wohnhäuser im Libanon zertrümmern. Diese Vergeltung ist ebenso maß- wie ruchlos. Israel zielt nicht nur auf Hisbollah, es nimmt ein ganzes Volk in Geiselhaft.

Zudem: Jeder fünfte Libanese ist inzwischen auf der Flucht, es fehlen Lebensmittel, Notunterkünfte und Medikamente. Noch am Anfang der Woche konnte keine Hilfsorganisation ins Land, Israel blockierte sämtliche Zufahrten auf dem Land, zu Wasser und in der Luft. Auch das verstößt gegen das Völkerrecht, denn die Kriegsparteien, Israelis wie Hisbollah, sind verpflichtet, den Helfern so genannte humanitäre Korridore einzurichten, auf denen diese sicher zu den Notleidenden gelangen. Für das Allernötigste brauche man jetzt 150 Millionen Dollar Soforthilfe, sagen die Vereinten Nationen und bitten um Spenden; die Kosten für den späteren Wiederaufbau des Libanons schätzen sie auf viele Milliarden Dollar. Erst seit Anfang August, eigentlich viel zu spät, berät endlich eine internationale Libanon-Konferenz in Rom auch über humanitäre Hilfe. Neben dem Libanon, Ägypten, Saudi-Arabien, den USA, der EU, Russland, den UN und der Weltbank nimmt auch Deutschland daran teil. Es wäre gerecht, sie würden das Verursacherprinzip einführen, dann müssten auch Israel, Syrien und Iran für die verheerenden Schäden aufkommen. Wenigstens das.

Damit Israels Waffen nachhaltig schweigen, müssen sich die USA einmischen; damit Hisbollah nicht mehr feuert, Syrien und Iran. Jetzt rächt sich, dass George W. Bush wider alle realpolitische Vernunft sämtliche Drähte zum demokratiefeindlichen Regime in Damaskus gekappt hat. Dass sich Teheran auch als eine Folge des Irak-Kriegs zu einer unberechenbaren Regionalmacht aufschwingen konnte. Und dass Iran und Syrien über alle schiitisch-sunnitisch-alewitischen Rivalitäten hinweg gemeinsame Sache machen. Greift der  Waffenstillstand, sollten so bald wie möglich internationale Friedenstruppen in den Süden des Libanons einrücken, um Israel mit Hilfe einer  Pufferzone Hisbollah vom Hals zu halten. Viele arabische Staaten halten das für eine gute Idee. Auch Israel ist einverstanden, sein  Verteidigungsminister empfiehlt sogar die Nato als Schutzmacht.

Es gibt allerdings viele Einwände gegen eine solche Truppe, die man ernst nehmen muss. Zum Beispiel: Wären Nato-Verbände bereit, notfalls beiden Seiten ein Gewehr vor die Brust zu halten – also auch den Israelis? Würden die Libanesen in fremden Soldaten nicht den verlängerten Arm Israels sehen? Wie robust wäre das Mandat der Truppe wirklich, und wie könnte sie bei der Entwaffnung Hisbollahs dienlich sein? Wie bindet man Amerika ein, das keine Soldaten schicken will, aber irgendwie mitmachen müsste, damit sowohl die Israelis als auch die Regierenden in Washington diese Armee respektieren?

Eine robuste Friedenstruppe, in welcher Form, Farbe und Aufstellung auch immer, ist unausweichlich – aber die Frage, ob an ihr Deutsche teilhaben sollen, derzeit nicht wirklich wichtig.  Was sonst wäre die Alternative? Weiterkämpfen bis zum Letzten, bis kein Stein mehr auf dem anderen steht und auch Nachbarstaaten in Flammen aufgehen? Dieser Ausgang wäre verheerend und muss verhindert werden. Um der vielen Menschenleben, um des Libanons – und um Israels willen.

Dauerhafter Frieden in der Region ist nicht in Sicht. Hierfür müsste Israel einen Palästinenserstaat an seinen Grenzen zulassen, der diesen Namen verdient. Dies kann kein Staat sein, der quasi unter israelischer Oberaufsicht steht. Deshalb muss Israel akzeptieren, dass die PalästinenserInnen selbst bestimmen wollen und werden, wie sie regiert werden und wer in dieser Regierung sitzt. Wer, wie die derzeitige israelische Führung, erklärt, mit der gewählten palästinensischen Regierung nicht verhandeln zu wollen, weil sie nicht genehm ist, gießt Wasser auf die Mühlen der Islamisten. . Das israelische Volk muss sich entscheiden, ob es im Nahen Osten leben oder ob es seine Nachbarn weiter ständig demütigen will. Wer dort leben will, muss mit allen Beteiligten reden, auch mit den Herrschenden in Syrien und im Iran. Wer Gruppen von vornherein als ‚Terroristen’ ausschließen will, der akzeptiert, dass er dieser Gruppe dann die Legitimation für weitere kriegerische Aktionen liefert!

„Ein lebensfähiger Palästinenserstaat dient der Sicherheit, Stabilität und dem Frieden im Nahen Osten“, so heißt es auf der Homepage der Generaldelegation Palästinas in Deutschland. Lebensfähig ist Palästina schon aufgrund seiner Lage nur in enger wirtschaftlicher Kooperation mit Israel. Die Hamas-Regierung sollte diese Fakten anerkennen und beweisen, dass sie zu einer solchen Kooperation bereit ist. Hierzu wird sie nach dem Ende der Kampfhandlungen glaubwürdige Versuche unternehmen müssen, ihre militanten AnhängerInnen von Angriffen und Anschlägen abzuhalten. Die Wahlen hat sie nicht wegen, sondern trotz ihrer Militanz gewonnen. Bei den letzten Umfragen vor der bewaffneten Auseinandersetzung sprachen sich rd. 90% der PalästinenserInnen für eine friedliche Koexistenz mit Israel aus.

(csk)

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