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Koalition verabschiedet sich vom solidarischen Gesundheitssystem

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD einigten sich die Koalitionsparteien auch auf eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung. Diese Reform soll den steigenden Kosten, bedingt durch technischen Fortschritt und demografischen Wandel, Rechnung tragen. Außerdem sollten eigentlich auch die so genannten Lohnnebenkosten gesenkt werden. Die Schwarz-Rote Regierung versuchte deshalb einen Kompromiss zwischen den im Wahlkampf formulierten Modellen der Gesundheitsprämie (Kopfpauschale) der CDU/CSU und der Bürgerversicherung der SPD zu finden. Da die Förderung präventiver Ansätze zur Verhinderung krankheitsbedingter Kosten bei den bisherigen Gesundheitsreformen  kaum eine Rolle spielte wäre, der Begriff Finanzierungsreform im Gesundheitswesen statt Gesundheitsreform sicherlich  richtiger. Auch diese „Reform“ macht die Versicherten und Kranken nicht gesünder, sondern ärmer. Profiteure der geplanten Reform sind neben den Unternehmen die privaten Krankenkassen, die unangetastet bleiben. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind 72,6 Millionen Menschen versichert, das entspricht 87 % der Bevölkerung. Pflichtversichert sind ca. 29,8 Mio., kostenfrei mitversicherte Familienangehörige 22,6 Mio., RentnerInnen 15,6 Mio. und freiwillig versichert sind 4,6 Mio. Menschen. Die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung beliefen sich 2004 auf 142,8 Mrd. Euro. Die Ausgaben der gesetzlichen  Kranken- versicherung sanken 2004 um 3,5% auf 138,9 Mrd. Euro. 2005 erhöhten sich die Ausgaben auf 143,61 Mrd. Euro.

Die „Gesundheitsreform“  ab 2007

Alle BürgerInnen sollen künftig krankenversichert werden. Derzeit nicht Versicherte müssen von ihrer früheren Krankenversicherung wieder aufgenommen werden. Dies gilt sowohl für die gesetzliche als auch für die private Krankenversicherung.

Die Krankenkassen erhöhen ihre lohnbezogenen Beitragssätze 2007 um ca. 0,5 Prozentpunkte, was voraussichtlich Mehreinnahmen von ca. 5 Mrd. Euro einbringen wird. Die Erhöhung trifft Arbeitnehmer-
Innen und Arbeitgeber jeweils zur Hälfte. Der Beitragssatz erreicht damit im Durchschnitt der Krankenkassen 14,7% des Bruttolohns. Davon werden 6,9 Prozentpunkte vom Arbeitgeber gezahlt, der Arbeitnehmerbeitrag enthält weiterhin den 2005 eingeführten Sonderbeitrag von 0,9% und wird daher im Durchschnitt 7,8  Prozentpunkte betragen. Mit dem aufgeschobenen, aber nicht aufgegebenen Gesundheitsfonds konnten die Arbeitgeber damit faktisch ein Einfrieren ihrer Beiträge erreichen.

Die Krankenversicherung für Kinder soll langfristig ganz aus Steuermitteln finanziert werden. 2008 sind dafür 1,5 Milliarden Euro vorgesehen, 2009 dann drei Mrd. Euro. In den Jahren danach soll der Anteil weiter steigen. Die volle Finanzierung der  Kinderversicherung soll laut Schätzungen 16 Mrd. Euro kosten. Wo die Mittel dafür herkommen könnten, ist bislang nicht bekannt. Steuererhöhungen soll es nicht geben. Noch ist nicht klar, ob auch die Kinder von Privatversicherten über Steuern versichert werden sollen.

Die lohnbezogenen Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer und der Zuschuss aus Steuermitteln sollen in Zukunft über einen  Gesundheitsfonds, der erst 2009 eingeführt werden soll, unter den Krankenkassen verteilt werden. Dazu kommt ein ergänzender Zusatzbeitrag, den die Krankenkassen von ihren jeweiligen Versicherten direkt erheben können. Dabei wird ihnen freigestellt, diesen Zusatzbeitrag prozentual zum Einkommen oder als Kopfpauschale zu erheben. Der Zusatzbeitrag bleibt auf maximal 1% des  Einkommens begrenzt. Bis zu einer Höhe von acht Euro monatlich soll es jedoch keine Einkommensprüfung geben. Im Einzelfall - etwa bei ALG II - könnte das dazu führen, dass der Zusatzbeitrag mehr als ein Prozent des beitragspflichtigen Einkommens ausmacht.  Kassen, die weniger ausgeben als sie Mittel aus dem Gesundheitsfonds erhalten, können ihren Versicherten  auch Beiträge erstatten.

Wie der Fonds im Detail aussehen wird, ist aber immer noch nicht ganz geklärt. Zu Beginn soll er 100 Prozent der Gesundheitsausgaben abdecken. Dennoch könnten einige Kassen recht schnell zusätzliche Beiträge von ihren Versicherten verlangen, da  die  100-Prozent- Deckung sich auf einen Durchschnitt der Kosten pro Patient bezieht. Im bundesweiten Vergleich geben die Krankenkassen pro Patient aber unterschiedliche Summen aus - je nachdem, wie gut sie wirtschaften und wie sich ihre Versicherten zusammensetzen. Die Ver- sichertenstruktur soll daher über den neuen Risikostrukturausgleich berücksichtigt werden. Union und SPD haben sich nun geeinigt, darin 50 bis 80 besonders kostenträchtige Krankheiten zu erfassen. Kassen, die besonders viele Patienten mit diesen  Krankheiten unter ihren Versicherten haben, erhalten Ausgleichszahlungen. Welche Krankheiten genau unter den neuen  Risikostrukturausgleich fallen und wie hoch exakt die Ausgleichszahlungen sind, wird erst im Gesetzgebungsverfahren geregelt.

Die vor allem von Bayern, dort finden 2008 Landtagswahlen statt, befürchteten Nachteile für die Krankenkassen in den  einkommensstärkeren und damit "reicheren" Ländern sollen mit einer "Konvergenzklausel" abgefangen werden. Sollten die Kassen dort durch die Einführung des Fonds "draufzahlen", müssen sie das nicht sofort in kompletter Höhe tragen. Für zehn Jahre soll gelten: Maximal 100 Millionen Euro Zusatzbelastung jährlich. Ungeklärt ist allerdings, wie mit Kassen verfahren wird, die trotz Risikoausgleich nicht genug Geld erhalten und dies wegen der geringen Einkommen ihrer Versicherten auch nicht über den Zusatzbeitrag erwirtschaften können.

Die derzeitige Begrenzung der Ärztevergütung auf ein festes Gesamtbudget wird aufgehoben. Die Vergütung  soll auf Pauschalen je Leistung umgestellt werden. Die Honorare werden zukünftig je behandelter Krankheit oder je Patient in einer bundeseinheitlichen Gebührenordnung festgelegt. Schwerpunkt soll die Vergütung für Komplexe zusammengehörender Leistungen werden. Bei  Über- schreitungen bestimmter Leistungsmengen wird dabei ein Arzt nur noch stufenweise niedrigere (abgestaffelte) Preise berechnen dürfen.

Um die steigenden Ausgaben für Medikamente einzudämmen, sollen Höchstpreise eingeführt werden. Durch Preisverhandlungen zwischen Kassen und Apothekern sollen 2007 mindestens 500 Millionen Euro gespart werden. Wird dieses Ziel verfehlt, müssen die Apotheker den Kassen einen Sonderrabatt gewähren. Ärzte müssen vor der Verordnung sehr teurer und spezieller Arznei- und Hilfsmittel eine zweite Meinung eines ausgewiesenen Facharztes einholen. Neue Medikamente werden stärker auf Kosten und Nutzen geprüft.

Endgültig geeinigt haben sich Union und SPD auch über einen Basistarif in der privaten Krankenversicherung. Dieser muss die gleichen Grundleistungen wie die gesetzlichen Kassen bieten. Damit soll vor allem bislang nicht versicherten BürgerInnen und ehemals privat Versicherten wieder eine Möglichkeit zur Versicherung geboten werden. Der Tarif darf nicht mehr kosten als bei den gesetzlichen Kassen. Beim Wechsel zwischen privaten Kassen werden die so genannten Altersrückstellungen "mitgenommen". Berechnungsgrundlage dafür ist der Basistarif. Die ursprünglich vereinbarte Möglichkeit zur Mitnahme der Altersrückstellungen beim Wechsel zur gesetzlichen Kasse wurde aufgegeben.

Dieser faule Kompromiss geht keinen einzigen Schritt in Richtung einer solidarischen Gesundheitsver-
sicherung. Im Gegenteil, das ist der Einstieg in die Kopfpauschale. Die SPD hat für den Erhalt der Großen Koalition den letzten Rest an sozialen Errungenschaften im  Gesundheitswesen geopfert. Jetzt  liegt es  an den Versicherten, selbst ihren Protest zu artikulieren und für ein solidarisches  Gesundheitssystem auf die Straße zu gehen. Der DGB ruft für den 21. Oktober zu Demonstrationen gegen den Sozialabbau in mehreren Städten auf.
 

hg