Phänomen, Lebenslügen oder Ergebnis neoliberaler Politik?
Die Verarmung hat in Deutschland erhebliche Ausmaße angenommen. Insgesamt sind bis zu 10,5 Millionen Menschen betroffen. Viele dieser KollegInnen mit überwiegend „schlechter“ Ausbildung empfinden ihr Leben als „ gesellschaftlichen Abstieg“. Zwei Drittel der KollegInnen haben ihren Job verloren, die übrigen empfänden ihren Arbeitsplatz „häufig als nicht sicher“. Dazu komme „größte finanzielle Unsicherheit“ durch ein sehr niedriges monatliches Haushaltseinkommen, kaum finanzielle Rücklagen oder Wohneigentum. Die Folge seien „ausgesprochene Verunsicherung“ und das Gefühl, im gesellschaftlichen Abseits, auf der Verliererseite und vom Staat alleingelassen zu sein. Viele glauben, durch „Abschottung gegenüber Ausländern“ ihre Probleme lösen zu können.
Schröder-Regierung trägt Mitschuld
Kurt Beck, SPD, bezeichnete die Ergebnisse der Studie als „handfesten gesellschaftlichen Skandal“, während der Arbeitsmarktexperte der Sozialdemokraten, Ottmar Schreiner, seiner eigenen Partei Mitschuld an den geschilderten Zuständen vorwarf. „Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht über uns gekommen“, so Schreiner, „sie sind das Ergebnis der Politik von Gerhard Schröder“. “Die liberalistische Arbeitsmarktpolitik habe mit Hartz IV, Mini- und Ein-Euro-Jobs dazu geführt, dass Millionen Menschen keine Chance mehr hätten, aus dem Niedriglohnsektor mit seinen Hungerlöhnen hinauszukommen“. Schreiner fordert daher ein Umdenken seiner Partei. Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Stefan Hilsberg bezeichnete die Hartz-IV-Politik der rot-grünen Bundesregierung als eine "Lebenslüge". "Wir haben den Menschen vorgegaukelt, dass mit Fordern und Fördern jeder den ersten Arbeitsmarkt erreichen kann" und Steuersenkungen für die Unternehmen die Probleme lösen werden, sagte er. Für Millionen Menschen sei das jedoch nicht die Realität. "Gerhard Schröder hat zu kurz gedacht."
Müntefering bestreitet Klassengesellschaft
Fraktionsvize Joachim Poß verteidigte dagegen die
Hartz-Reformen. Die zentrale Thematik der Arbeits-
marktreformen, das Fördern und Fordern, sei richtig
gewesen, "früher wurde zu lange weggeduckt und gezahlt", sagte Poß.
Bundesarbeitsminister Franz Müntefering warnte vor Fehleinschätzungen.
Er sagte: "Es gibt keine Schichten, geschweige denn Klassen, in Deutschland."
Zwar gebe es Menschen, die es schwerer hätten. Das sei aber schon
immer so gewesen. Man müsse jungen Menschen, die aus solchen Familien
kommen eine Chance geben und sie nicht abklassifizieren. SPD-Generalsekretär
Hubertus Heil will in der Debatte um das Grundsatzprogramm der SPD „eine
neue Philosophie“ für einen „vorsorgenden Sozialstaat“ erarbeiten,
da die „neue Armut in unserem Land ... nicht nur materielle Armut“ sei,
sondern auch Armut an Bildung und Kultur“.
Massenarbeitslosigkeit unzureichend wahrgenommen
Kauder (CDU) sprach von einem Phänomen, das es seit
etwa zehn Jahren als Folge der Massenarbeits-
losigkeit gebe, von der Politik jedoch nur unzureichend
wahrgenommen worden sei. Der Deutsche Kinderschutzbund sieht einen Zusammenhang
zwischen wachsender Armut und der gestiegenen Zahl von Fällen
der Kinderverwahrlosung. 99 Prozent davon würden in armen Familien
registriert, sagte der Chef der Organisation, Heinz Hilgers. Die
Gewerkschaft der Polizei (GdP) beklagte die "verheerende Kürzungs-
politik" von Bund, Ländern und Kommunen. GdP-Chef Konrad Freiberg
sagte, das "kurzsichtige Streichen wichtiger Gelder" etwa für Jugendprojekte
oder der Abbau von Sozialarbeit würde für Rechtsextremisten
eine ideale Plattform schaffen.
Das Spiel mit den Ängsten
"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" - diese Mahnung
des linken Liedermachers und einstigen SPD-
Mitglieds Franz Josef Degenhardt aus den 60er Jahren
sollte selbst heute eigentlich noch eine besondere Gültigkeit haben.
Genauer gesagt: Spiel nicht mit ihren Ängsten. Doch das gilt offensichtlich
nicht mehr. Die Erkenntnisse der Studie, dass in Deutschland eine neue
„Unterschicht“ ("Prekariat") heranwächst - arm, schlecht ausgebildet
und chancenlos - sind so neu nicht. Das aufgesetzte Entsetzen in den
Regierungs-
parteien ist wenig glaubwürdig. Seit Jahren wird
immer wieder auf Kinder hingewiesen, die unterhalb der Armutsgrenze aufwachsen.
Und auf all diejenigen, die sich als Verlierer einer globalisierten Welt
empfinden und es auch sind. Die privaten Fernsehsender haben dieses "moderne
Lumpenproletariat" längst als eigene Zielgruppe entdeckt. So erschreckend
die Erkenntnis ist, dass ein Teil der Gesellschaft abgehängt
wird, diskutiert wird sie in regelmäßigen Zyklen. Warum also
jetzt schon wieder?
Die Gunst der Stunde aus machtpolitischem Kalkül genutzt
Der Eindruck drängt sich auf, dass die SPD aus parteitaktischem
und machtpolitischem Kalkül die Gunst der Stunde nutzen wollte, dass
die Studie gezielt lanciert wurde. Angesichts der momentanen „Schwäche“
der Union versuchen die Sozialdemokraten, die Themenhoheit zu beanspruchen
- um so die Marschrichtung vor dem Hintergrund der anstehenden Reformdebatten
im Arbeitsmarktbereich vorgeben zu können. Dass statt einer
deutlicheren Abgrenzung von der Union nun autoaggressive Selbstzerfleischung
bei den Sozial-
demokraten herausgekommen ist, war so sicher nicht geplant.
Die Parteispitze wollte soziales Gewissen demonstrieren, der Stamm klientel
ihre Fürsorge versichern. Mehr als reflexartige Worthülsen
wie die vom vorsorgenden Sozialstaat und einem Bildungsaufbruch sind jedoch
nicht dabei herausgekommen.
Der Wille zur Problemlösung fehlt
Aber auch die Union reagiert nach den üblichen Beißmustern
und glaubt mit schärferen Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose dem
Problem gerecht zu werden. Konsequenter Wille, die Probleme so gut es geht
wirklich von Grund auf anzugehen, ist auf beiden Seiten nicht erkennbar.
Zwar wird viel davon geredet, echte Chancen für die Ausgegrenzten
zu schaffen, doch wie genau das gehen soll, weiß in Union und SPD
niemand so genau. Mit punktueller Flickschusterei ist gesellschaftlicher
Ausgrenzung sicher nicht beizu-
kommen. In der neuen alten Debatte geht es also weniger
um die Sorgen und Nöte der Abgehängten, als vielmehr darum, aus
politischem Eigeninteresse damit zu spielen.
Armut ist das Ergebnis neoliberaler Politik
Dass sich Teile der SPD, die seit zehn Jahren Regierungsverantwortung
die Gesetze, die zur Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten
mit gemacht hat, jetzt zum Anwalt der „Verarmten" aufspielen will, kann
man nur als Skandal und pure Heuchelei bezeichnen. Offensichtlich will
die SPD auch von ihren Wahl-
niederlagen und dramatischen Mitgliederverlusten (40
Prozent seit 1990) ablenken. Linke, Gewerkschafter-
Innen und Sozialverbände hatten immer wieder
vor dem sozialen Abstieg vieler Millionen Menschen gewarnt. Genutzt hatte
das nichts. Im Gegenteil, sie wurden immer wieder von den Hartz-IV-Parteien
(SPD, Grüne, CDU/CSU und FDP) beschimpft und in die Populisten-
Ecke gestellt. Von Armut betroffen ist keineswegs nur die so genannte "bildungsferne
Unterschicht". Auch ein Großteil der so genannten „Mittelschicht“
lebt in prekären, also jederzeit vom sozialen Abstieg bedrohten Arbeitsverhältnissen.
Befristete und ungesicherte Teilzeit- und Leiharbeitsverhältnisse
sind auch für gut ausgebildete KollegInnen die Regel. Die wachsende
Armut eines großen Teils der Bevölkerung ist aber nur ein Teil
der Wahrheit. Zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass im gleichen
Zeitraum die Zahl der Reichen und Superreichen rapide angestiegen ist.
Auch das ist ein Ergebnis neoliberaler Politik in der kapitalistischen
Klassengesellschaft.