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345 Euro müssen reichen

Hartz-IV-EmpfängerInnen werden vorerst auch weiter mit dem Regelsatz von 345 Euro im Monat auskommen müssen. Das Bundessozialgericht in Kassel hat eine Klage gegen die Höhe des Arbeitslosengeldes II und die Anrechnung von Partnereinkommen abgelehnt. Nach Auffassung des Senats ist der Regelsatz sowohl mit dem materiellen als auch mit dem so genannten soziokulturellen Existenzminimum vereinbar und führe nicht automatisch zu einer gesellschaftlichen Ausgrenzung von Hartz-IV- Empfängern (Az: B 11b AS 1/06 R). Der Senat billigte dem Gesetzgeber einen Spielraum bei der Festsetzung der Leistungen zu. Selbst wenn es dabei fachliche Fehler gegeben haben sollte, habe das noch keine verfassungsrechtliche Relevanz.

Im vorliegenden Fall hatte eine Frau aus Baden-Württemberg geklagt, weil ihr die Zahlung des Arbeitslosengeldes verweigert worden war. Die Richter sahen durch eine Rente des Ehemannes und Kindergeld bei der dreiköpfigen Familie ein Einkommen von etwa 1050 Euro. Dem stehe ein nach Hartz-Sätzen berechneter Bedarf von 858 Euro gegenüber. «Damit ist schon mathematisch klar, dass eine Hilfebedürftigkeit nicht besteht», sagte die Vorsitzende Richterin Ruth Wetzel-Steinwedel. Fehler bei der Festsetzung des Regelsatzes seien nicht erkennbar. Der Anwalt der Frau kündigte an, eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zu prüfen.

Politisch weiter streiten

"Die Entscheidung des Bundessozialgerichts muss nicht das letzte Wort bleiben", kommentierte Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. "Wir bleiben bei unserer Auffassung, dass die bestehende Leistungshöhe beim ALG II kein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet." Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sei nun gehalten, die Frage zu klären. "Ungeachtet der aktuellen Entscheidung sind wir sicher, dass die zunehmende Repression gegenüber den Leistungsberechtigten sowie die neu eingeführte Möglichkeit der Sanktionierung mit einem kompletten Leistungsentzug die Menschenwürde verletzt und verfassungswidrig ist", so Kipping.

"Wie immer die Gerichte letztlich entscheiden, wir streiten auf jeden Fall politisch weiter für die Erhöhung des ALG II auf 420 Euro pro Monat und den Aufbau einer repressionsfreien bedarfsorientierten Grundsicherung", versprach die Abgeordnete der Linken. "Wenn Geld für die Entlastung der Unternehmen im Überfluss da zu sein scheint, darf am Existenzminimum der Ärmsten nicht gespart werden."

Initiativen sind fassungslos

Die Erwerbsloseninitiativen zeigten sich "wütend und fassungslos" nach dem Urteilsspruch: Erneut werde deutlich, "dass die Kassler Richter kaum etwas mit den Realitäten von Hartz IV-Opfern zu tun haben, da sie sich in anderen Sphären bewegen", schimpfte Martin Behrsing, Sprecher des Erwerbslosen Forum Deutschland. Dass das Gericht sich so über die Bedenken der Wohlfahrtsverbände und sozialen Initiativen hinweg setze, "erstaunt uns schon", so Behrsing. Der Erwerbslosen-Sprecher kündigte "neue Formen des  Sozial- protestes und der Mobilisierung" an, mit denen die "Politik der Verarmung und zunehmenden Prekarisierung" gestoppt werden soll.

Klage vor dem Bundesverfassungsgericht

Als „skandalös und empörend“ bezeichnete die bayerische Bundestagsabgeordnete Kornelia Möller das Urteil des Bundessozialgerichts. „Auch die Kasseler Richter wissen, dass die Armutsgrenze nach der Definition der Europäischen Union bei 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Bürger liegt. In Deutschland  war dies 2005 ein Monatseinkommen von 980 Euro. Der Hartz-IV-Regelsatz  liegt weit unter dieser Armutsgrenze. Wenn die Richter den Regelsatz dennoch als verfassungskonform bezeichnen, dann heißen sie ausdrücklich gut, dass Armut gesetzlich verordnet werden darf. Das ist ein ungeheurer Skandal.“

„Jenseits jeder Realität“ ist für Kornelia Möller die Behauptung in der Urteilsbegründung, der Regelsatz führe nicht zur gesellschaftlichen Ausgrenzung von Arbeitslosen. Möller: „Es ist sehr wohl gesellschaftliche Ausgrenzung, wenn ein Hartz-IV-Empfänger beispielsweise kaum mehr mit dem Bus  oder der Bahn fahren kann, weil im Regelsatz dafür ganze 14,03 ? vorgesehen sind, eine Monatskarte aber ein Mehrfaches davon kostet." Es sei gesellschaftliche Ausgrenzung, wenn der Regelsatz kaum die Grundgebühr für das Telefon abdecke und Haustiere weggegeben werden müssten, da „nicht regelsatzrelevant“, so Kornelia Möller.

Die Politikerin der Linken begrüßt es deshalb, dass die Bürgerin, deren Klage gegen den Regelsatz in Kassel abgewiesen wurde, nun erwägt, vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu klagen. Denn in Art. 1 GG stehe immer noch der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Situation von Kindern nicht berücksichtigt

Der Sozialverband Volkssolidarität hält das Hartz-IV-Urteil für "enttäuschend". Ihr Bundesgeschäftsführer Bernd Niederland erklärte: „Das betrifft sowohl die Ablehnung eines höheren Regelsatzes für das ALG II als auch die Zurückweisung der Forderung nach einer höheren Zahlung für ältere Arbeitslose, die auf die 58er-Regelung vertraut haben." Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband habe schon Ende 2004 in einer Studie überzeugend nachgewiesen, dass die Hartz IV-Regelsätze unzureichend seien und nicht das soziokulturelle Existenzminimum deckten. "Die entsprechenden Untersuchungen und Berechnungen sind präzise und schlüssig“, sagte Niederland.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband, dem die Volkssolidarität angehört, habe insbesondere nachgewiesen, dass bei der Berechung der Regelsätze der tatsächliche Bedarf von Jugendlichen und Kindern unzureichend berücksichtigt wurde. Laut Statistischem Bundesamt würden derzeit die monatlichen Kosten für ein Kind 570 Euro betragen. Der Hartz-IV-Regelsatz für ein Kind unter 14 Jahren liege aber nur bei 207 Euro im Monat, so Niederland.

Die Volkssolidarität kritisiert auch, dass die geltenden Regelsätzen die Preisentwicklung seit dem 1.1.2005 nicht berücksichtigten. Hinzu komme, dass mit der deutlichen Anhebung der Mehrwertsteuer zusätzliche Belastungen zu berücksichtigen seien. Die Volkssolidarität fordert eine Anhebung der Regelsätze auf mindestens 415 Euro monatlich.

Urteil trifft Ältere besonders

Dass das Bundessozialgericht bei den fast 400.000 älteren Arbeitslosen, die die 58er-Regelung eingegangen sind, einen höheren Anspruch ablehne, sei Niederland zufolge besonders hart für die Betroffenen. „Ihre Hoffnung, dass das Gericht dem Vertrauensschutz einen hohen Stellenwert einräumen würde, ist schwer enttäuscht worden. Nicht nur diesem Personenkreis werde zunehmend das Gefühl vermittelt, dass die Politik schalten und walten könne, ohne auf die Interessen der Menschen Rücksicht zu nehmen, die ohnehin schon in einer schwierigen Lage sind“, erklärte der Bundesgeschäftsführer der Volkssolidarität.

Keine Überraschung

Mit den aktuellen Urteilen hat das Bundessozialgericht im Grunde nur die alte Rechtsprechung des – damals noch zuständigen – Bundesverwaltungsgerichts zur früheren Sozialhilfe bestätigt. Sie konnten deshalb niemanden wirklich überraschen. Während damals aber nur kleine Initiativen auf der örtlichen Ebene und wenig vernetzt für die konkrete Verbesserung der Lebenssituation von SozialhilfeempfängerInnen stritten, ist es diesmal anders. Selbsthilfegruppen, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen und linke politische Organisationen kämpfen gemeinsam gegen die Hartz-Gesetze. Dieser politische Streit eröffnet Chancen für die Zukunft, gerichtliche Auseinandersetzungen helfen da weniger.

Neue Debatte

Mit der Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 23. November 2006 ist eine neue Debatte innerhalb der sozialen Initiativen und Verbände ausgebrochen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hält die Höhe des Regelsatzes bei Hartz-IV-EmpfängerInnen für nicht verfassungskonform und fordert eine Erhöhung des Regelsatzes auf 415 Euro monatlich.

Von den 345 Euro für einen Erwachsenen und den 207 Euro für ein Kind müsse alles außer Miete und Heizung gezahlt werden.
Es verstelle den Blick dafür, dass kein Mensch für 345 Euro am gesellschaftlichen Leben teilhaben könne, erklärte etwa Cornelia Rundt, Vorstand des Paritätischen Niedersachsen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kündigte sogleich die Prüfung einer Verfassungsbeschwerde an. Es sei fraglich, ob die Absenkung der Arbeitslosenunterstützung auf das Niveau des Arbeitslosengeldes II (ALG II) insbesondere im Falle älterer Arbeitsloser verfassungsrechtlich zulässig sei, sagte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock dem “Tagesspiegel”.

Demgegenüber äußerte sich Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD), dass der Regelsatz von 345 Euro monatlich plus Wohngeld sorgfältig berechnet worden sei. “Das ist ja keine willkürliche Festsetzung, sondern das gründet sich auf eine Einkommens- und Verbrauchsstatistik”, sagte er zur Begründung. “Da wird genau festgestellt, was ist die Basis für ein Existenzminimum.” Es bleibt zu hoffen, dass diese Urteile den angekündigten Widerstand der sozialen Initiativen und Verbände forcieren werden, weil sonst Armut, Unterschichtenproblematik und Obdachlosigkeit damit Normalität bleiben.

csk