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Besinnliche Gedanken, oder:

Wer gehört zur Unterschicht?

Zu der von Beck angestoßenen Debatte über die Unterschicht sind ja inzwischen viele Beiträge durch die Presse gegangen. Wer aber gehört denn nun zur Unterschicht?

Die Weihnachtszeit ist ja eine besinnliche Zeit, so wird zumindest behauptet. Aber ob man die Zeit nutzt, ein wenig über die Welt zu “sinnieren”, ist wohl mehr vom Einzelnen und von den Umständen abhängig. Wer das ganze Jahr hart gearbeitet, dabei vielleicht jede Menge unbezahlte Überstunden geleistet hat, dabei stets verfolgt von der Angst, den Job zu verlieren, wird sicherlich wenig Antrieb verspüren, über Recht und Unrecht oder das Schichtmodell des Herrn Beck zu philosophieren. Er/Sie wird sich eher auf die Familie konzentrieren und versuchen, alles andere zu verdrängen.

Ich habe es da besser. Ich habe keine Familie, die meine Zeit (zu Recht) beanspruchen würde, und ich habe auch kaum Geld, das ich unbedingt unter die Leute bringen muss. Folglich kann ich es mir erlauben, meine Gedanken ein wenig schweifen zu lassen und einen Abgleich meiner Vorstellungen mit denen des Bundespräsidenten über unser Land, seine “Schichten” und die Menschen allgemein zu betreiben.

Bundespräsident Horst Köhler hat in den letzten Wochen sicherlich viel Aufmerksamkeit erregt und sich bei so manchem Respekt dabei erworben. Allerdings gehöre ich nicht dazu. Was ist schon groß passiert? Er hat Gesetze nicht unterschrieben, weil er die Ansicht vertritt, dass sie mit der Verfassung nicht konform sind. So mutig und toll sich das anhört, ist es nicht. Ein Bundespräsident soll repräsentieren, ernennt auf Vorschlag den Kanzler und die Minister, veranstaltet zuweilen Parties, auf denen sich die Wirtschafts- und Politik-Prominenz trifft, um über die Probleme der Welt zu reden und darüber, ob man die Probleme beheben oder doch besser verschärfen sollte, kurz, eine Galionsfigur, die gelegentlich aus gegebenem Anlass montiert wird, die meiste Zeit aber verstauben würde, wenn nicht die Putzkolonne mit ihren Staubwedeln dieses verhindern würde.

In der Regel träumt der BP also in seiner kleinen Sozialwohnung vor sich hin und wartet darauf, dass man ihn braucht. Aber ja, das hatte ich vergessen. Wenn Gesetze verabschiedet werden, dann muss er die als letzte Instanz unterzeichnen, und das hat er nun zwei Mal verweigert. Einmal ging es um die Frage, ob die Bundeswehr ein vollbesetztes Flugzeug abschießen darf, wenn sie bzw. der  Geheim- dienst oder die Politik darin einen Terroristen vermuten (dabei wäre das so praktisch gewesen) und nun zu der Frage, ob sich das  Ver- braucherinformations(verhinderungs)gesetz mit der Verfassung verträgt, weil der Bund keine Aufgaben an die Gemeinden vergeben darf. Im letzten Fall ging es nicht darum, dass dieses Gesetz die Information der Verbraucher verhindert, denn das ist gewollt. Wo kämen wir schließlich hin, wenn der Verbraucher hinter all die kleinen Geschäftsgeheimnisse mancher Unternehmen gelangt, wenn sie vergammeltes Fleisch als Frischfleisch deklarieren, ob und wo sie genmanipuliertes Saatgut verwenden und solche Kleinigkeiten mehr. Nein, es geht lediglich um die Frage, wer die Verhinderung von Informationen denn nun wirklich bestimmen darf, der Bund, oder die Gemeinden.

Eine Aufgabe des BP habe ich vergessen zu erwähnen. Er darf auch Begnadigungen aussprechen. Vermutlich war er sauer, weil man ihm im Falle Ackermann und Esser dieses Recht mit dem § 153 a vorweggenommen hat. Also hat er sich schmollend in seine kleine Datscha in Bonn zurückgezogen und an eine kleine Revanche gedacht.

Allerdings kann ich mich nicht entsinnen, dass er Bedenken gegen die Verschärfungen der Hartz-Gesetze gehabt hätte, obwohl mir da einige verfassungsmäßige Bedenken in den Sinn kommen. Auch sonst fallen mir keine bewegenden Taten zugunsten der Bevölkerung ein, außer gelegentlichen warmen Worten. Zu Weihnachten und Neujahr sind jeweils solche warmen Worte fällig. Als “Landesvater”, der allerdings völlig unter dem Pantoffel von “Landesmutter Merkel” steht, darf er dann weise (?) Ratschläge verteilen und dann und wann auch einmal milde Kritik an Politkern üben.

So hat er diesmal in seiner Weihnachtsansprache betont, wie wichtig es ist, Arbeitsplätze zu schaffen. Allerdings hat er nicht erwähnt, wie das mit dem kräftigen Griff in die Taschen der Bevölkerung denn bewerkstelligt werden soll. Für ihn ist seinen Worten nach die Schaffung von Arbeitsplätzen der Schlüssel gegen Ausgrenzung und Armut. Fürwahr, fürwahr, aber dennoch stoßen mir diese Worte sauer auf.

War es nicht Herr Köhler, der maßgeblich bei der Wende daran beteiligt war, dass die Arbeitslosigkeit sprunghaft angestiegen ist? War er nicht einer der Hauptverantwortlichen für den Verkauf der “Unternehmenskredite der DDR” an die Westbanken? Wie war das noch?  Da die DDR damals noch zu den stärksten Wirtschaftsnationen der Welt zählte, arbeitete man dort mit einem kleinen rick. Unternehmen der DDR waren ja Staatsbetriebe (angeblich Volkseigentum). Ihre Gewinne mussten Sie an den Staat ausschütten. Aber im  inter- nationalen Währungsgeschäft musste der Schein gewahrt werden. Subventionen an die Betriebe wurden von den DDR-Banken als Scheinkredite vergeben. Dabei waren die Subventionen eigentlich keine, sondern das erforderliche Kapital, weil ja die Gewinne an den Staat flossen. Natürlich wussten alle anderen Länder von diesen Praktiken, aber wenn es um Geschäfte geht, drückt man schon mal alle Augen zu. Mit der Treuhandgesellschaft wurden dann kurz vor der Wende die Unternehmen privatisiert. Nach der Wende wurden dann die DDR-Banken für ein Trinkgeld an die westdeutschen Banken verkauft.

Die Berliner Bank zum Beispiel kaufte die aus der DDR-Staatsbank hervorgegangene Berliner Stadtbank für 49 Millionen Mark. Sie erwarb damit zugleich durch den Staat garantierte Altschuldenforderungen in Höhe von 11,5 Milliarden Mark – das 235-fache des Kaufpreises.

Die Genossenschaftsbank West kaufte die Genossenschaftsbank Ost für 120 Millionen Mark und erwarb Altschuldenforderungen von 15,5 Milliarden Mark. Die Westdeutsche Landesbank Girozentrale zahlte für die Deutsche Außenhandelsbank 430 Millionen Mark, also eine knappe halbe Milliarde, und bekam dafür Altschuldenforderungen über sieben Milliarden Mark. Deutsche-, Dresdner- und Commerzbank waren natürlich auch beteiligt, aber darüber habe ich keine konkreten Zahlen.

Die Betriebe hatten natürlich dieses Geld nicht, hatten sie doch ihre Gewinne an den Staat ausgeschüttet. Dass die Kredite nur Scheinkredite waren, war den westdeutschen Banken und auch den Politikern gleichgültig. Sie forderten die so genannten Altschulden (mit Staatsgarantie aus dem Einigungsvertrag) und damit waren die DDR-Unternehmen pleite. Um die Schulden abzutragen, wurden die Unternehmen zerschlagen, das Inventar verkauft und die westdeutschen Banken kassierten ca. 200 Milliarden DM, während Millionen ostdeutsche ArbeitnehmerInnen plötzlich arbeitslos waren. Und diese Geschäfte hat Köhler maßgeblich mitgestaltet, denn zur Wende war er Staatssekretär des Finanzministeriums und gehörte zu den führenden Kräften für die finanziellen Transaktionen (einschließlich  Treu- handgesellschaft) zur Zeit der Wende. Im Tagesspiegel ist das schön nachzulesen. Über diese Vorgänge soll es einen “streng  vertrau- lichen” Bericht des Bundesrechnungshofes geben. Streng vertraulich wohl deshalb, weil diese Praktiken das Licht der Öffentlichkeit völlig zu recht scheuen müssen. Kohl und seine Mannen (einschließlich des jetzigen BP Köhler) haben bei der Wende die Rolle der Testamentvollstrecker der sterbenden DDR übernommen, das Erbe zugunsten westdeutscher Wirtschaftsunternehmen und Banken verschenkt und verschleudert und den Erben nichts als Schulden übergeben.

Wenn Köhler weiter in seine Weihnachtsansprache anführt, die Zahl der Arbeitslosen ginge zurück, die Konjunktur habe angezogen, ein Zeichen, dass die Reformen endlich Wirkung zeigten, dann spielt er wohl gerade das Sandmännchen, das der Bevölkerung Sand in die Augen streut. Der Konjunkturaufschwung beruht auf der Öffnung des chinesischen Marktes und das wirkt sich weltweit aus, in Deutschland aufgrund der Reformen verhaltener als in anderen Ländern. Arbeitslosenzahlen sinken nur statistisch, und zeigen sich auch da nur deshalb positiver, weil die milde Witterung bisher die saisonale Effekte (z. B. Baubranche) noch nicht wirksam werden ließ. Soll man deshalb die globale Erwärmung als Segen betrachten??

Es tut mir leid, Herr Köhler, aber Respekt haben Sie aus meiner Sicht sicherlich nicht verdient. Nicht als Staatssekretär während der Wiedervereinigung, weil die Arbeitslosigkeit im Osten zu großen Teilen auf Ihre Kappe geht, nicht als Direktor des IWF. In Ihrer Amtszeit gab es in Brasilien Proteste gegen die Kürzung der Sozialausgaben. Die waren vom IWF zur Tilgung der Auslandskredite verordnet worden. Während dafür jährlich etwa 50 Mrd. Dollar ins Ausland fließen würden, fehle dieses Geld den über 16 Millionen Hungernden im Lande, war die einhellige Ansicht der Kritiker. Als Mitglied der trilateralen Kommission, der auch der “justiziell  begnadete” Josef Ackermann und weitere zwielichtige Größen wie Graf Lambsdorff, Henry Kissinger (wie könnte es bei einer von  Rockefeller gegründeten Kommission auch anders sein) oder Paul Wolfowitz angehören, stehen Sie wohl eher für Global Governance denn für die Interessen eines Volkes ein, was im Prinzip schon Ihre Nominierung zum Bundespräsidenten sehr fraglich erscheinen lässt. Als “Landesvater” betrachte ich Sie mit Sicherheit nicht.

Somit habe ich wohl klargestellt, dass bei meinen "besinnlichen" Gedanken eklatante Abweichungen zu den in der Weihnachtsansprache des BP geäußerten Vorstellungen bestehen. Natürlich habe ich auch darüber nachgedacht, zu welcher Schicht ich mich eigentlich zählen muss. Das Ergebnis war schnell gefunden. Kein Geld, keine Perspektive, welches zu bekommen, also gehöre ich zu Unterschicht, oder modern ausgedrückt, zum Prekariat. Ginge es nach Herrn Beck, dann würde ich nun demütig mein Haupt senken, schließlich bin ich ein Mensch dritter Klasse.

Aber, uneinsichtig wie manche dieser ungebildeten Prekarier ja nun mal sind, lege ich den Kopf in den Nacken, atme befreit auf und fühle Stolz. Stellen Sie sich vor, ich würde zum Mittelstand gehören. Dann wäre Angst mein ständiger Begleiter, Angst, den Job zu verlieren, Angst, das bisschen Angesparte zu verlieren und Wut, dass die Prekarier von dem leben wollen, was ich erwirtschaften helfe. Die Wut kommt daher, dass die Mehrzahl in der Mittelschicht es peinlich vermeidet, sich über die Tatsachen in diesem Land auch aus anderen Quellen als der Presse und den TV-Medien zu informieren. Nein, die Mittelschicht, so glaube ich, hat zu wenig Rückgrat, sich gegen die bestehenden Verhältnisse aufzulehnen, weil sie glaubt, durch opportunes Verhalten den eigenen Wohlstand sichern zu können und mag er noch so gering sein. Also die Mittelschicht ist nichts für mich. Bliebe noch die Oberschicht. Zur ihr gehören Leute wie Schröder, Merkel, Köhler, Beck, Müntefering, Stoiber, Söder, Pofalla, Ulla Schmidt, Jung, Ackermann, Esser, Sinn, Rürup, Clement und viele andere. Aber jetzt mal ganz ehrlich, welcher Mensch mit ein wenig Selbstachtung möchte wirklich zu dieser Schicht gehören? Für schnöden Mammon seine Seele verkaufen?

Also bin ich doch lieber Prekarier, ein Angehöriger der Unterschicht. Ich kann meinen Kopf hoch tragen, benötige keine Bodyguards, muss keine Angst haben dass man mir auf die Schliche kommen könnte, weil ich nicht für kleine Gefälligkeiten größere Summen kassiere. Ich muss kein Geld in die Schweiz transferieren und somit auch nicht das Finanzamt fürchten, kann in den Spiegel sehen, ohne mich zu schämen, kurz, meine Freiheit ist größer als die der Damen und Herren der Oberschicht, denn ich kann Achtung vor mir selbst haben. Wer aus der Oberschicht kann das schon von sich behaupten, fragt

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