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Zwei Jahre Hartz IV:

Verarmungsprogramm

Wahrscheinlich war es einer der schwerwiegendsten Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik: Zum 1. Januar 2005, also vor zwei Jahren, wurde das neue Arbeitslosengeld II (ALG II) eingeführt. Direkt betroffen sind vor allem Arbeitslose, für die die neuen Regelungen oft eine erhebliche Verschlechterung bedeutet, die gesellschaftlichen Auswirkungen gehen allerdings weit über den Kreis der 4,13 Millionen Bezieher von ALG II und Sozialgeld hinaus: Schon vor den Reformen war Arbeitslosigkeit für die Betroffenen kein Zuckerschlecken, doch nun werden sie derart drangsaliert, dass auch unter den noch Erwerbstätigen die Angst umgeht. Der war genauso geplant. Nach den sogenannten Hartz-IV-
Reformen ist die Arbeitslosigkeit mehr denn je ein prächtiger Knüppel in der Hand der Unternehmer, mit dem sich die Beschäftigen einschüchtern und die Löhne drücken lassen. Entsprechend nahm 2005 der  durchschnittliche Reallohn in Deutschland um 1,1 Prozent ab, nach dem er schon in den beiden Vorjahren um jeweils ein halbes Prozent  zurückgegangen war. Auf der anderen Seite sind die Gewinne der Unternehmen förmlich explodiert. Gemittelt über alle Aktiengesellschaften und GmbHs fielen sie 2005 8,9 Prozent höher als 2004 aus. Die 30 wichtigsten im sogenannten DAX-30 gelisteten Konzerne hatten sogar 31 Prozent mehr in der Schatulle. Netto wohlgemerkt.

Für die Erwerbslosen, aber auch für die einstigen Sozialhilfeempfänger, die in das neue Gesetz einbezogen wurden, waren zum Teil erhebliche materielle Verschlechterungen die Folge. Die 345 Euro für eine Haushaltsvorstand reichen kaum zum Leben, wenn man nicht noch aus stillen Reserven schöpfen kann oder die eine oder andere Zuwendung von der Familie und Freunden erhält. Hinzu kommt eine zwischenzeitlich mit verschiedenen Änderungsgesetzen weiter verschärfte Gängelung durch die Behörden. Über den Hebel Wohngeld zwingt man ALG-II-Empfänger zum Umzug und junge Erwachsene unter 25 zum Verbleib in der Wohnung der Eltern. Einen Urlaubsanspruch gibt es für Erwerbslose nicht mehr. An Werktagen muss jede Abwesenheit vom Wohnort beantragt werden. Wird das nicht getan, oder meldet sich der ALG-II-Bezieher nicht zurück, so gilt dies als „Pflichtverletzung“, die mit teilweisem oder vollständigen Entzug aller Leistungen (inklusive Wohn- und Heizgeld) geahndet wird.

Natürlich schaffen derlei Schikanen keine zusätzlichen Arbeitsplätze. Aber sie halten Bedürftige davon ab, ihre mickrigen Ansprüche wahrzunehmen. Rund drei Millionen Berechtigte verzichten nach Schätzungen von Irene Becker von der Goethe-Universität in Frankfurt/Main darauf, ALG II bzw. Soziageld zu beantragen. Das heißt diese Menschen leben sogar noch unter dem ALG-II- Niveau und bescheren der Bundesagentur damit Milliardenüberschüsse. Trotz der Beitragssenkung werden auch im neuen Jahr vermutlich mehrere Milliarden Euro in der Nürnberger Kasse übrig sein. Vor allem fördert die Mischung aus Gängelung, Aushungern und  Zwangs- arbeit in Form von Ein-Euro-Jobs prächtig den Niedriglohnsektor. Im Juni 2005 bezogen etwa 388.000  sozialversicherungspflichtig Beschäftigte ergänzend ALG-II-Leistungen, berichtet Alexandra Wagner vom DGB-nahen Wirtschafts- und  Sozialwissenschaftlichem Institut (WSI). Rund 284.000 davon waren Vollzeitbeschäftigte. Insgesamt bekamen 906.000 Erwerbstätige ihr  Arbeitseinkommen aufgestockt, fast doppelt so viele wie vor der Reform. Dazu zählen auch 395.000 Minijobber.

Schließlich ist das ALG II auch eine Geschichte der Pannen. Vielerorts war die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialämtern in den „Arbeitsgemeinschaften“ schlecht vorbereitet. Zu leiden hatten darunter vor allem die Bedürftigen. Anträge und Belege wurden  ver- schlampt, Leistungen Monate lang nicht gezahlt. Das Ergebnis: Auch die Vermieter müssen auf ihr Geld warten und mancher Betroffener entgeht nur knapp der Obdachlosigkeit. Komplettiert wurde das Chaos von einer fehlerhaften aber teuren, zentralisierten Software von T-Systems. In der Woche nach Weihnachten machte die Abgeordnete Gesine Lötzsch von der Linksfraktion im Bundestag darauf aufmerksam, dass wegen eines neuerlichen zentralen Ausfalls der Hartz IV-Software A2LL die Bearbeitung von Erst- und  Fort- zahlungsanträgen seit dem 27.12. nicht mehr möglich war. Mit der Einführung von ALG II haben sich übrigens nach Angaben des WSI die Verwaltungskosten um eine Milliarde auf 3,5 Milliarden Euro erhöht.

(wop)