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SPD und CDU einigen sich in Sachen Mindestlohn:

Fauler Kompromiss

Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich gewachsen. Je nach Definition gibt es heute zwischen 8 und 9 Millionen NiedriglohnempfängerInnen, darunter zwischen 3 und 4 Millionen Vollzeitbeschäftigte. Mehr als eine Millionen KollegInnen verfügen über ein so geringes Erwerbseinkommen, dass sie zusätzlich Arbeitslosengeld II erhalten. In zahlreichen Branchen werden Stundenlöhne von 5, 4 oder sogar nur 3 Euro gezahlt. Deutschland hat damit in absoluten Zahlen den größten Niedriglohnsektor in Europa. Der Anteil an allen Beschäftigten liegt mit gut 17 Prozent über dem europäischen Durchschnitt.

Als „Kompromiss“ in Sachen Mindestlohn soll das Entsendegesetz jetzt so erweitert werden, dass es angeblich für zehn bis zwölf Branchen gilt. Das Entsendegesetz von 1996 sieht schon jetzt für einige Branchen in Deutschland eine Mindestbezahlung vor, indem es in diesen Branchen Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt - etwa auf dem Bau, im Dachdecker- und Malerhandwerk. Die Bundes-
regierung soll dieses Gesetz künftig auf Vorschlag des Arbeitsministers problemlos in allen Branchen anwenden können, deren Beschäftigte zu mehr als 50 Prozent tarifvertraglich gebunden sind. Für Branchen, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, soll eine Mindestentlohnung durch eine Modernisierung des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes von 1952 ermöglicht werden. Demnach müssten sich gemeinsame Ausschüsse von Arbeitgebern, ArbeitnehmerInnen und das Arbeitsministerium auf einen Mindestlohn verständigen. Kommt eine Mehrheit für einen solchen Antrag nicht zustande, kann auch die Bundes-
regierung einen Mindestlohn per Verordnung festlegen. Details zur Reform dieses Gesetzes blieben zunächst ebenso offen, wie die Antwort auf die Frage, für welche Branchen konkret die neuen Entsendegesetz-Regelungen gelten sollen.

Die Ausdehnung des Entsendegesetzes auf weitere Branchen stößt allerdings auf so viele Hürden, dass mit baldigen und erst recht nicht mit wirksamen Ergebnissen gerechnet werden kann: Die schwerste Hürde ist, dass die Anwendung des Entsendegesetzes einen geltenden Tarifvertrag voraussetzt, der mindestens für die Hälfte der Beschäftigten gilt. In den maßgeblichen Branchen gibt es meist keinen Tarifvertrag, häufig nicht einmal einen Arbeitgeberverband. Außerdem muss es sich dabei um bundesweite Tarifverträge handeln die in Deutschland Seltenheitswert haben. Und es gibt sie fast nie dort, wo Armutslöhne gezahlt werden. Die Arbeitgeber müssen mit dem Verfahren einverstanden sein. Sollten sich die Arbeitgeber dem Abschluss von Mindestregelungen verweigern, etwa wie seit Jahren im Hotel- und Gaststättengewerbe, dann ist die Anwendung des Entsendegesetzes gescheitert. Eine weitere Hürde ist der Umstand, dass in den maßgeblichen Branchen Löhne gezahlt werden, die unter dem Existenzminimum liegen, so dass das Entsendegesetz Hungerlöhne zu Mindestlöhnen erklären würde.

Die CDU/CSU spielt sich in den letzten Tagen als Hüterin der Tarifautonomie auf. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die  Tarif- autonomie aber nicht gefährden, da in vielen Branchen die Tarifautonomie derzeit überhaupt nicht funktioniert - weil es keine Arbeitgeberverbände gibt oder weil die Gewerkschaften zu schwach sind, um angemessene Tarifvergütungen durchzusetzen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde also die Tarifautonomie stabilisieren und in vielen Tarifbereichen eine aktive Tarifpolitik überhaupt erst wieder ermöglichen. In den meisten europäischen Ländern sind zudem Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände an der Ausgestaltung der Mindestlohnpolitik aktiv beteiligt, ein Beispiel dafür ist Großbritannien.

Auch eine gesetzliche Festlegung einer Grenze für sittenwidrige Löhne bringt nichts, da es längst Entscheidungspraxis der Arbeitsgerichte ist, Löhne für sittenwidrig zu erklären, die 20 beziehungsweise 30 Prozent unterhalb der tariflichen bzw. ortsüblichen Löhne bzw. Gehälter liegen. Außerdem wäre es ein Hohn derartige Grenzen gesetzlich zu fixieren da in einer Reihe von Tarifbereichen eine solche Bestimmung Löhne und Gehälter auf niedrigstem Niveau zwischen zwei und fünf Euro/Stunde zulassen würden.
 
Das Mindestarbeitsbedingungsgesetz von 1952

Das Gesetz ermöglicht die staatliche Entgeltfestsetzung für Arbeitsmarktsegmente, in denen das Tarifvertragssystem keine Sicherungen geschaffen hat. Die Anwendung des Gesetzes ist auf einzelne Erwerbsbereiche beschränkt, in denen Arbeitsbedingungen nicht durch Tarifvertrag geregelt werden. Auf Grundlage dieses Gesetzes kann das Bundesarbeitsministerium unter bestimmten Voraussetzungen Mindestarbeitsbedingungen erlassen. Seit seinem In-Kraft-Treten hat das Gesetz keine praktische Bedeutung erlangt. Erfahrungswerte können daher in die Bewertung nicht einbezogen werden. Bei dem MinArbBG handelt es sich um ein reines Organisationsgesetz. Es enthält keine materiell-rechtlichen Vorschriften, sondern regelt nur das Verfahren zur staatlichen Festsetzung von Mindestarbeits- bedingungen.
 

Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8 Euro. Es gibt verschiedene Orientierungsmöglichkeiten für die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland. Zum einen muss sich der Mindestlohn in das allgemeine Sozial- und Lohngefüge einpassen. Als Orientierung könnte die so genannte Pfändungsfreigrenze dienen, d.h. derjenige Betrag des Lohns, der einem verschuldeten Arbeitnehmer nicht gepfändet werden darf. Umgerechnet würde dies etwa einem Mindestlohn von 8,10 Euro pro Stunde entsprechen. Geht man von der landläufigen Definition von Armutslöhnen aus, die bei 50 Prozent des nationalen Durchschnittlohns angesetzt wird, so müsste der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland sogar deutlich über acht Euro liegen. Als zweite  Orientierungsmarke könnten die gesetzlichen Mindestlöhne in den mit Deutschland vergleichbaren westeuropäischen Nachbarstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Irland oder den Benelux-Staaten dienen. Sie liegen zwischen 8 und 9 Euro.

(hg)