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Hartz-IV-Debatte

Es war ein warmer Sommertag. Aber mit dem Glanz, den das Politschauspiel im Kuppelbau des Französischen Doms verbreitete, konnte die Sonne an diesem 16. August 2002 nicht mithalten. Den Gendarmenmarkt, den viele Berliner für den schönsten Platz ihrer Stadt, ja Deutschlands halten, hatten sich Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und VW-Vorstand Peter Hartz für ihre Inszenierung  aus- gesucht. Am 16. August war es fünf Jahre her, dass die beiden ihr Wunderwerk für den Arbeitsmarkt vorstellten. Auf 343 Seiten präsentierte die Hartz-Kommission ihre Ideen für den radikalsten Umbau des Arbeits-
marktes seit Bestehen der Bundesrepublik. 343 Seiten, die das Land veränderten. Schröder und Hartz sind nicht mehr im Amt, aber das sind eigene Geschichten. Die Hartz-Reformen sind noch da - sie bestimmen Tag für Tag das Leben vieler Millionen Menschen. Und sie wälzten die politische Landschaft um.

Der SPD brachten die Arbeitsmarktreformen eine Zerreißprobe. Sie vertieften das Trennende zwischen Sozialdemokratie und  Gewerk- schaften so, dass aus kleinen Rissen ein tiefer Bruch wurde. Davon profitierte die Linkspartei, deren Aufstieg ohne Hartz IV kaum in dem Maße möglich gewesen wäre. Nun reden viele Politiker davon, dass die Reformen jetzt ihre positiven Wirkungen entfalten. Der Aufschwung ist da!

Der bejubelte Aufschwung in Deutschland ist nur ein Teil der Wahrheit: Wer auf die inflationären Zahlen in den Armutsstatistiken schaut, wird nicht mehr von Aufschwung reden.

Gibt es ihn noch, den Sozialstaat, so wie ihn das Grundgesetz verlangt? Aus den Köpfen vieler Politiker scheint er verschwunden zu sein, jedenfalls in der Diskussion über steigende Preise für Brot oder Butter und was das für Hartz-IV-EmpfängerInnen bedeutet. Statt einfach zu prüfen, ob der Regelsatz von 347 Euro zum Leben reicht, streiten die Politiker. Sie reden vom Sparen wie Günther Oettinger oder von einer neuen Gerechtigkeit wie Guido Westerwelle, der erst einmal jene, die arbeiten, am Aufschwung beteiligen will. Ist Sozialhilfe etwa ein Gehalt für Faule und nicht das Existenzminimum, das allen in Zeiten der Not zusteht?

Und Sozialminister Franz Müntefering hat sich einen Deal ausgedacht: Mehr staatliche Hilfe dürfe es nur geben, wenn ein Mindestlohn eingeführt wird. Münteferings Forderung hat zwar einen wahren Kern, doch er darf notwendige Hilfe nicht von Bedingungen abhängig machen. Im Koalitionsstreit über den Mindestlohn wird die Politik die Armen im reichen Land bald wieder vergessen. Mit Armut mag sich niemand befassen. Es wird ignoriert, dass sie stetig und bedrohlich wächst. In nur einem Jahr stiegen die Ausgaben der  Grund- sicherung für alte Menschen um zwölf Prozent, weil immer mehr Alte immer niedrigere Renten haben. Und die Renten werden in Zukunft noch stärker sinken.

In nur einem Jahr musste die Sozialhilfe elf Prozent mehr für Behinderte und Kranke zahlen, darunter auch für jene, die als ‚nicht arbeitsfähig’ vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Die Wohlfahrtsverbände warnten 2003 vor neuer Armut durch Hartz IV, niemand hat auf sie gehört. Ihre Prognosen überholt jetzt die Realität.

Niedriglöhne haben die Armut verhärtet

Nichts hat die Armut gelindert, weder der Aufschwung noch die sinkenden Arbeitslosenzahlen. Immer mehr Menschen, nun schon 7,4 Millionen, sind von Hartz IV abhängig. Selbst wenn sie einen Job finden, brauchen sie zu oft zusätzlich Sozialhilfe, weil Familien von Dumpinglöhnen nicht leben können. Arbeitgeber missbrauchten das Sozialsystem, klagt der Deutsche Städtetag.

Niedriglöhne haben die Armut verhärtet, auch wenn die CDU das nicht wissen will. Nirgendwo in den westlichen Industrienationen, von den USA abgesehen, leben Kinder länger in Armut als in Deutschland, überall in Europa hat man bessere Rezepte. Fast zwei Millionen Kinder hängen von der Sozialhilfe ab, in Kiel jedes dritte, in Städten wie Bremerhaven oder Halle fast jedes zweite Kind. Der Staat ignoriert das. Es ist bekannt, dass diese Kinder häufiger krank und in ihrer Entwicklung behindert sind als solche aus besseren  Ver- hältnissen, dass sie in der Schule versagen. Die Sozialhilfe gibt ihnen nicht genug für Bildung, Kleidung und Nahrung. Kinder können nicht für 2,57 Euro pro Tag ernährt werden. Mittagessen in Schulen sind für arme Kinder zu teuer, manche essen den ganzen Tag nichts. Das Geld reicht nicht für Schulhefte und Stifte. Die Kinder sind benachteiligt und sie werden es ihr Leben lang bleiben.

Eine bundesweite Pauschale hat der Gesetzgeber 2003 als Regelsatz geschaffen, in der Absicht, dass nicht das Sozialamt, sondern die Armen selbst sich um ihren Alltag kümmern sollen. Doch die Pauschale passt nicht, allein die Lebenshaltungskosten zwischen München und Kiel sind zu unterschiedlich.

Die Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke

Die Pauschale ist zu niedrig angesetzt, um 20 Prozent, sagen die Wohlfahrtsverbände. Nichts darf passieren, ein kaputter Kühlschrank, steigende Preise für Arzneien, Energie, für den Bus oder das Essen sind eine Katastrophe. Es wird nicht genügen, die Sozialhilfe nachzubessern. Der Regelsatz muss reformiert werden, er sichert das Existenzminimum nicht, er hat große Fehler. Er wird nur alle fünf Jahre geprüft und zusätzlich mit der mageren Rentenanpassung erhöht. Zwei Euro mehr gab es Anfang Juli erstmals seit 2003. Sie decken nicht einmal die Inflationsrate, die auch ein Maßstab sein könnte für bessere und gerechtere Regelsätze.

Die Gerechtigkeit aber bleibt auf der Strecke. Manche Politiker wollen nur den Kindern mehr Geld geben, sie vergessen die Alten. Andere sagen, Eltern würden das Geld für ihre Kinder in Alkohol und Zigaretten umsetzen, sie dürften es nicht bekommen. Solche Mütter und Väter gibt es. Doch was ist mit den schätzungsweise 95 Prozent der Eltern, die ihre Kinder umsorgen? Sollen sie ohne Geld bleiben? Nicht nur der Regelsatz muss reformiert werden, sondern auch mancher Gedanke mancher Politiker.

Das Soziale ist teuer und es wurde viel gespart in den vergangenen Jahren. Dabei ist es geblieben, von der Krisenintervention für gefährdete Kinder abgesehen. Es fehlt die Hilfe für Alte und Kranke, die oft in unerträglichen Verhältnissen vegetieren; für Erwachsene und Kinder, die mit dem Alltag nicht zurechtkommen; für MigrantInnen und immer mehr Obdachlose, weil billige Wohnungen rar werden. Spenden und ziviles Engagement können helfen, aber sie können den Staat nicht ersetzen.

DGB-Nord: Hartz IV ist gescheitert

Auch der DGB Nord-Vorsitzende Peter Deutschland zog eine negative Bilanz. Gemessen an den Ansprüchen der damaligen Regierung, die Arbeitslosigkeit mit Hartz IV innerhalb kurzer Zeit zu halbieren, sei das Unternehmen gescheitert. Nur wolle das heute niemand mehr wahrhaben und rede sich die Wirklichkeit schön. Hartz IV habe viele Menschen ärmer gemacht. Ohne sachlichen Grund sei die  Bezugs- dauer des Arbeitslosengeldes auf ein Jahr gekürzt worden, durch die verschärfte Bedürftigkeitsprüfung bekämen viele Arbeitslose danach nichts mehr.

Deutschland: „Hartz IV hat einen verhängnisvollen Kreislauf in Gang gesetzt, weil Arbeitslose auch Jobs annehmen müssen, die bis zu 30 Prozent unter der ortsüblichen Bezahlung liegen. 600.000 Ein-Euro-Jobs, davon 37.000 im Norden (HH 11.000, SH 11.000, MV: 15.000) sorgen zusätzlich dafür, dass die Löhne sinken. Über 40.000 Menschen (HH: 10.000, SH:12.000, MV: 20.000), die Vollzeit arbeiten, müssen plötzlich Hartz IV-Leistungen als ergänzende Unterstützung beantragen, weil ihr Lohn nicht ausreicht. Auf diese Weise subventioniert der Staat dann solche Unternehmen, die Hungerlöhne zahlen, und schafft einen politisch gewollten Niedriglohnsektor. Über 450.000 Menschen (HH: 140.000, SH: 230.000, MV: 84.000) werden geringfügig entlohnt.“ Deutschland forderte erneut einen gesetzlichen Mindestlohn.

Vollends absurd werde das Ganze, wenn, wie geschehen, die Qualifizierungsmaßnahmen der Bundesagentur drastisch zurückgefahren würden, obwohl die deutsche Wirtschaft den Facharbeitermangel immer stärker spüre. Hartz IV, so Deutschland, habe auch keinerlei Auswirkungen auf den Rückgang der Arbeitslosigkeit, die sei vielmehr Ergebnis der Konjunkturlage.

Deutschland: „Ich kann Hartz IV nichts Positives abgewinnen, auch wenn die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe richtig war. Aber das wäre auch ohne diesen furchtbaren Sozialabbau möglich gewesen.“

Wenn sich Armut weiter ungehindert ausbreitet wie eine Seuche, dann wird es gefährlich. Armut raubt den Menschen die Zukunft. Der bejubelte Aufschwung in Deutschland ist nur ein Teil der Wahrheit: Wer auf die inflationären Zahlen in den Armutsstatistiken schaut, wird nicht mehr von Aufschwung reden.

hg, csk