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Angelas Reisefreiheit

Die Kanzlerin verdient wieder gute Haltungsnoten. Selbstbewusst, aber nicht unbescheiden ist sie in Indien aufgetreten. Die  Wert- schätzung der Gastgeber für sie war offenkundig. Die Frau aus Deutschland, der mächtige Männer fremder Länder so manches offene Wort nachsehen, die Neues gern aufsaugt und dabei von Amts wegen die Welt für sich entdeckt: Sie ist kein komplizierter Gast. Sie hat ihr Herzensthema Klimaschutz, das mittlerweile weltpolitisch die Marke Merkel definiert. Ein Goodwill-Thema letztlich. Da lassen sich die Mächtigen gern auch mal zu langfristigen Zielen drängen, an denen irgendwann die Nachfolger gemessen werden. Aber sonst? Viel echte Freundlichkeit, wenig echte Ambition. Das war auch in Indien so.

Nun sind wir es spätestens seit Helmut Kohl gewöhnt, dass deutsche Kanzler sich - speziell in Asien - vor allem als Türöffner der Wirtschaft verstehen. Damals führte das in Teilen der Öffentlichkeit noch zum Naserümpfen. Unter Gerhard Schröder wurde es zur Selbstverständlichkeit. Jetzt, mit Merkel, reisen die Wirtschaftsgrößen in rundum freudiger Erwartung mit, als ginge es nur noch um eines: dabei zu sein bei der großen Rallye. In ihren Augen leuchtet sie schon, die Freude über Auftragsmilliarden. So groß, wie der Kuchen in Fernost ist, wird sicher etwas abfallen. Und die Kanzlerbotschaft seit Kohl lautet, frei übersetzt, schließlich: Was für die Wirtschaft gut ist, kann fürs Vaterland nicht schlecht sein.

Bei solchen Werbereisen bleibt wenig Zeit, das wirkliche Leben zu sehen. Die Blindheit ist sozusagen programmbedingt. Vertreter der (gehobenen) Zivilgesellschaft und Intellektuelle kommen zum Gespräch ins Upper-Class-Hotel. Die Slums nebenan, eine die Hälfte aller Menschen mehr schlecht als recht beschäftigende Landwirtschaft, die desolate Infrastruktur, die verdreckte Umwelt, kurz: die rundum maroden indischen Verhältnisse, in denen es kleine Wohlstandsinseln gibt - all das wirkt von fern betrachtet weniger bedrückend. Es gibt dazu eine Art christdemokratische Moraltheorie: Indien, das wahre Multikulti-Land, in dem trotz scharfer sozialer Gegensätze die Duldsamkeit Tugend bleibt. Weshalb es vielleicht gar nicht so schlimm sein mag, faktisch die Oberschicht zu besuchen, die sich ja zu einem guten, obendrein demokratischen Weg bekennt.

Mit Verlaub: So die Widersprüche wegzudrücken und zu Hause die Diskussion laufen zu lassen, ob dieses moderne Indien überhaupt noch Entwicklungshilfe braucht, grenzt an Kumpanei. In Neu Delhi 120 teure Eurofighter wärmstens zu empfehlen, während das Geld für ein vernünftiges Gesundheitssystem fehlt, ist moralisch mehr als zweifelhaft. Die faktische Anerkennung der Atommacht Indien durch die USA mit Verspätung kleingeistig nachzuvollziehen, mag für Deals auf der Weltbühne hilfreich sein. Friedenspolitisch glaubwürdig ist es nicht sondern letzten Endes schwächlich.

Dass den Deutschen alle Türen offenstehen, hat Frau Merkel nach drei Tagen Indien entdeckt. Sehr schön. Wie wäre es mit einer Diskussion durch die offene Tür darüber, was diesem spannenden, boomenden, armen Indien insgesamt nützt - und was nur seiner Oberschicht? Wie wäre es mit einem entschlossenen strategischen Partnerschaftsangebot für langfristige soziale Entwicklung? Statt die Wirtschaft der Wirtschaft zu überlassen. Statt auf der Ranch bei George W. Bush nur stolz zu berichten, dass Indien bei der  Welt- handelsrunde wohl nicht final blockieren wird.

Es stimmt: Sozialer Fortschritt in der Welt bleibt eine Sache von vielen eigenständigen, parallelen Lernprozessen. Nur: Wer sich auf Eigensicherung und Mitschwimmen konzentriert, bringt im Ganzen nichts voran, sondern wird Teil des Problems.

csk