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Das Märchen vom Linksruck

Lieber Oskar Lafontaine, lieber Guido Westerwelle, Sie müssen jetzt tapfer sein! Auch wenn es Ihre (Alp-)Träume zerstört: Es gibt keinen Linksruck in Deutschland. Was es gibt, ist eine Verschiebung des Koordinatensystems der politisch, publizistisch und ökonomisch tragenden Schichten dieses Landes nach rechts, wenn man denn in den Kategorien der politischen Gesäßgeografie bleiben möchte. So entpuppt sich der scheinbare Linksruck als optische Täuschung - verstärkt durch einen Zerrspiegel: den Wahlerfolg der Linkspartei.Die Veränderung bringt eine Episode aus der Hauptstadt auf den Begriff. Dort wird diskutiert, ein Wahrzeichen des alten West-Berlins abzureißen. Unrentabel. Das Internationale Congress-Centrum (ICC) macht pro Jahr 14 Millionen Euro Minus. Sein ICC sei keineswegs unwirtschaftlich, widerspricht der Architekt. Es sei von Anfang an klar gewesen, ein solches Haus könne nicht ohne Subventionen auskommen – ‚wie auch ein Krankenhaus’.

Das ist der Punkt: Heute sollen Krankenhäuser ohne Subventionen auskommen. Der Architekt - ein Linker? Oder hat er einen (Sozial-)Staat im Kopf, den es im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr gibt? Sie schafft erstmals einen wirklich weltweiten Markt mit entsprechender Konkurrenz. Sie zerstört hergebrachte Standards. Subventionen für Kongresszentren mögen Minderheitsgeschmack sein. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens finden viele Menschen wenig lustig - zumal da sie den Eindruck haben, dass die Kosten auf sie abgewälzt werden, die PatientInnen.

Diese Entwicklung wurde von einer Debatte begleitet, die den Begriff ‚Reform’ neu erfand. Reformen sollen nicht mehr das Leben der Menschen verbessern, sondern - zwecks Hebung ihrer globalen Konkurrenzfähigkeit - die Gewinnmargen der Wirtschaft maximieren. Wichtigster Repräsentant dieses ‚Rechtsrucks’: der Sozialdemokrat Gerhard Schröder. Seine ‚Agenda 2010’ hat die rot-grüne Regierungspolitik nach den neuen Koordinaten ausgerichtet. Die ‚Reform des Sozialstaats’ von oben aber kommt unten als Abbau an.

Darüber war und bleibt der deutsche Souverän not amused. Da die einstige christdemokratische Opposition nicht weniger, sondern mehr vom selben versprach, steckten die Wähler christdemokratische und sozialdemokratische Schröderpartei zur Besserung ins Bootcamp der großen Koalition. Dort reden beide inzwischen immer mehr wie SPD (und CDU) vor der schröderianischen Wende.Aber die BürgerInnen sind nachtragend. Deshalb verschärften sie die Strafe durch das Comeback des Anti-Schröder: Oskar Lafontaine.
Schröder ist auf diese Weise gelungen, was bisher nur Helmut Schmidt geschafft hat: Er schnitt der Sozialdemokratie eine neue Partei aus den Rippen. Ökologische Uneinsichtigkeit schuf die Grünen. Soziale Unsensibilität machte aus der ostdeutschen PDS eine  gesamtdeutsche Partei - die Linke.

Und nun? Die BürgerInnen verschließen keineswegs die Augen. Sie applaudieren den Gehalts- und Statuskämpfen von Ärzten und Lokführern. Die zeigen's denen da oben mal! Aber die meisten akzeptierten Verschlechterungen von Einkommen und Arbeitszeit, Erhöhung von Stress für die Beschäftigten mit erstaunlicher Geduld. Mal schauen, ob das bei den ‚großen’ Tarifrunden des Jahres anders wird.

Was die Menschen aber nicht dulden: dass ihre ‚Volksvertreter’ sich kompromisslos auf die Seite der Stärkeren schlagen. Sie wollen Schutz. Dafür wählten sie ‚ihre’ Politiker. Aber dass die ehemaligen Volksparteien sich mit programmatischem Vergnügen vom Volk entfernen, muss, bitte schön, nicht sein. Deshalb sieht die gelbe Karte auf dem Spielfeld der deutschen Politik rot aus. Doch das ‚Bootcamp’ wirkt. Die SPD hat den Mindestlohn für sich entdeckt. Die Union verspricht Teilnahme aller am gesellschaftlichen  Reich- tum. Die Koordinaten werden nachjustiert. Nur die FDP bleibt mit Schröders Koordinaten im Abseits der Opposition. Westerwelle und Lafontaine als Wächter der großen Koalition! Sage niemand, die Deutschen hätten keinen Humor.

(csk)