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Migration:
Die Schule braucht eine andere Politik

Schleswig-Holstein geht seit 2007 beim Bildungssystem neue Wege. Nach monatelangen Grabenkämpfen hatte sich die Große Koalition auf eine Änderung des Schulgesetzes verständigt. Im Mittelpunkt steht die Einführung von Gemeinschafts- und Regionalschulen. Haupt- und Realschulen in ihrer bisherigen Form wird es spätestens vom Schuljahr 2010/11 an nicht mehr geben, was bei vielen Eltern und LehrerInnen auf Kritik stößt. Die erste Regionalschule soll am 1. August 2008 in Altenholz öffnen. Dort können Schüler dann den Hauptschulabschluss und die Mittlere Reife erwerben. Am Ende der sechsten Jahrgangsstufe wird nach einer gemeinsamen Orientierungs phase entschieden, welchem Bildungsgang die Schülerin oder der Schüler zunächst zugeordnet wird.So weit, so gut, obwohl  Gemein- schaftsschulen in Kiel dank der schwarz-grünen Blockadehaltung im Rat und der untätigen Oberbürgermeisterin bislang nicht einmal in der Planung sind. Auch wird die bloße Einführung einer anderen Schulorganisationsform die Hoffnung, die Schwierigkeiten der HauptschülerInnen wären dadurch gelöst, nicht erfüllen.

Es sind sich zwar verbal alle einig: Integration beginnt in der Schule, die beste Prävention heißt Bildung. Ohne den Hinweis auf die herausragende Bedeutung von Kitas, Schulen oder Ausbildungsplätzen kommt heute kein Politikerstatement über kriminelle Migranten, keine Diskussion über wuchernde Parallelge-
sellschaften mehr aus. Fordert Ministerpräsident Erdogan in Deutschland türkische Lehranstalten, schallt ihm ein empörtes „Die Kinder müssen Deutsch lernen“ entgegen.

Leider haben die pädagogisch wertvollen Einsichten, die Beschwörungen aller Integrationsgipfel und Kultusministerkonferenzen die Betroffenen bislang kaum erreicht. Der Kern der Schule, der Unterricht, die Auswahl und Ausbildung der PädagogInnen, die Lehrbücher und Curricula sind von den Debatten seltsam unberührt geblieben. Damit pflegt die Nation auch in der Schule eine ihrer größten Lebenslügen: dass ein Land, in das Millionen Fremde kamen, sich im Kern nicht verändern muss.

Multikulti ist gescheitert, heißt es nun. Auf unsere Bildungseinrichtungen kann sich das Urteil kaum beziehen. Noch erfahren muslimische Kinder in keinem einzigen Bundesland etwas über ihren Glauben in einem regulären Religionsunterricht. Die Zahl der LehrerInnen aus MigrantInnenkulturen in unseren Lehrerzimmern liegt bei einem Prozent. Die Strategie amerikanischer Universitäten, gezielt StudentInnen aus Einwandererfamilien anzuwerben, ist in unseren Hochschulen völlig unbekannt. Und welche Schule begreift die Nichtdeutschen als Chance und nicht als Hindernis?

Längst sprechen wir nicht mehr von einem Minderheitenproblem. Unter den sechs- bis elfjährigen Kindern haben 29 Prozent einen sogenannten Migrationshintergrund. Das heißt, ihr Vater oder ihre Mutter ist im Ausland geboren. Unter den Ein- bis Zweijährigen sind es bereits 34 Prozent. In Großstädten haben fast zwei Drittel der Erstklässler eine solche Biografie. Nicht alle gehören zu den potenziellen Bildungsverlierern, aber vielen droht ein Schicksal wie Generationen vor ihnen.

Die Reformen nach dem Pisa-Schock helfen den Migrantenkindern kaum

Spätestens seit der ersten Pisastudie 2001 weiß man, in welch dramatischem Ausmaß Migrantenschüler-
Innen in deutschen  Klassen- zimmern scheitern. So kommen von den türkischen Jugendlichen mehr als die Hälfte in der neunten Klasse beim Lesen und Rechnen nicht über das Grundschulniveau hinaus. In der darauf folgenden Pisa-Untersuchung erzielten Kinder der ersten und zweiten  Einwanderergeneration, die unser Schulsystem komplett durchlaufen haben, schlechtere Leistungen als Kinder von Einwanderern, die erst wenige Jahre bei uns leben. Das ist weltweit einmalig. Vergangenen Dezember erschien die dritte Studie. Die Leistungssteigerungen der deutschen SchülerInnen wurden von Politik und Öffentlichkeit gefeiert. Was im Jubel unterging: Die SchülerInnen aus MigrantInnenfamilien stagnieren auf niedrigem Niveau.

Der jüngste Integrationsbericht der Bundesregierung beschreibt bei den beruflichen Abschlüssen gar einen kontinuierlichen Absturz. So gibt es unter den 20- bis 24-Jährigen mit Migrationshintergrund mehr Unqualifizierte (54 Prozent) als bei den 25- bis 34-Jährigen (42 Prozent). Die Botschaft der Zahlen lautet: In Deutschland verfestigt sich ein neues, ethnisch geprägtes Sub-Proletariat. Schon die Ergebnisse der ersten Pisa-Studie hätten ein milliardenschweres Sofortprogramm gerechtfertigt: zur Sprachförderung der SchülerInnen, der Fortbildung ihrer LehrerInnen, zur besseren Ausstattung von Schulen mit einem hohen AusländerInnenanteil. Die Kultusminister konzentrierten sich stattdessen auf andere Reformfelder. Auch der Bund blieb weitgehend untätig. Sein Programm für Ganztagsschulen hat MigrantInnenkinder nicht verstärkt erreicht, so das Ergebnis einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung. In einigen Bundesländern wie etwa Bayern oder Hamburg steckten die Kultusbehörden das Geld ausgerechnet in Gymnasien, um die Schulzeitverkürzung von 13 auf 12 Jahre abzufedern. Mit dem Pisa-Desaster hatte die Reform nicht das Geringste zu tun. Die Aufstiegschancen von Einwandererkindern wird das Turboabitur weiter verschlechtern. Sie benötigen mehr Zeit zum Lernen, nicht weniger.

Das Feld, auf dem die Bildungspolitiker die größten Energien entfalteten, liegt vor der Schule: Überall im Westen Deutschlands müssen sich Vier- oder Fünfjährige mittlerweile einem Sprachtest unterziehen. Die Bundesländer haben viel Geld auf die Massenscreenings verwandt. Zumal jedes Bundesland sein eigenes Diagnoseinstrument entwickelte. Wer Deutschdefizite bescheinigt bekommt, erhält ein gezieltes Sprach-
training. Die Programme sind sinnvoll; niemand lernt besser als kleine Kinder. Was jedoch völlig fehlte, waren Hilfen für diejenigen, die sich bereits in der Schule befanden und im Pisa-Test gerade durchgefallen waren. Heute heißt ihre Perspektive Hartz IV.

Naiv ist zudem die weitverbreitete Vorstellung, nach 100 Stunden Deutschtraining mit einer Erzieherin könne ein Einwandererkind dem Unterricht in der Schule problemlos folgen. Viele Kinder, die in der Familie zuerst Türkisch, Italienisch oder Russisch gelernt haben, sind auf eine längere sprachliche Unterstützung angewiesen. Dass dies notwendig ist, merkt man mittlerweile auf unseren Universitäten. Selbst nach 13 Jahren Schulunterricht haben Studenten aus MigrantInnenfamilien Probleme mit der deutschen Sprache. Das ist in anderen Nationen längst bekannt. Deshalb begleiten Länder wie Schweden oder Kanada ihre Neubürger von der Einschulung bis zur  Hoch- schulreife. Bei uns dagegen setzt das systematische Sprachtraining spätestens nach der Grundschule aus.  BildungsforscherInnen wissen, dass SchülerInnen nicht nur im Deutschunterricht an Sprachhürden scheitern, sondern ebenso in Mathematik, Chemie oder Geschichte. Auch der Physiklehrer muss ein Spracherzieher sein. In seiner Ausbildung bekommt er diese Fähigkeit jedoch nicht vermittelt.  Ausländerpädagogik gleicht an den meisten Universitäten bis heute der nachmittäglichen Neigungsgruppe in der Schule: Sie ist randständig, freiwillig und damit letztlich folgenlos.

Zwar verlangen die reformierten Ausbildungspläne für Lehramtsstudenten mittlerweile »interkulturelle Kompetenzen« oder Kenntnisse im Fach ‚Deutsch als Zweitsprache’. Teil des Pflichtcurriculums sind sie jedoch nur an wenigen Hochschulen. So verlassen noch immer jedes Jahr Tausende die Lehrerseminare, die die Verständigungsprobleme und die Lebenswelten ihrer SchülerInnen kaum kennen.

Lieber Leistungskurse in Latein oder Sprachförderung in der Grundschule?

Wer es ernst meint mit der Integration, müsste Schulen mit einem hohen MigrantInnenanteil bevorzugen. Die engagiertesten LehrerInnen, die besten SchulleiterInnen müssten hier unterrichten, unterstützt von SozialarbeiterInnen und PsychologInnen. Wenn es um die Personalausstattung geht, müssten SchülerInnen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, doppelt zählen, wie es in den Niederlanden üblich ist. In Deutschland erhalten Schulen zusätzliche Unterstützung erst dann, wenn sie öffentlich feststellen, dass sie gescheitert sind. Erst als die LehrerInnen der Berliner Rütli-Schule öffentlich kapitulierten, kam ein neuer Schulleiter, gab es Geld für Sozialarbeiter. Die teuerste Schulform in Deutschland ist gleichzeitig die deutscheste, das Gymnasium.Unterdurchschnittlich finanziert sind die  Grundschulen, wo man MigrantInnen am effektivsten fördern kann. Zugespitzt formuliert heißt die bildungsökonomische Alternative: Leisten wir uns einen Leistungskurs in Latein mit sechs Schülern, oder bezahlen wir für das Geld Sprachförderung in der  Brennpunktschule? Bisher ist die Lateinlobby stärker.

Die gleichen Beharrungskräfte wirken bei der Schulstruktur. Es gibt Gründe für das gegliederte Schulsystem. Die Förderung von Zuwandererkindern gehört sicher nicht dazu. Vier Jahre Grundschule sind zu kurz, um Sprachdefizite auszugleichen. Deshalb führte der direkte Weg die meisten SchülerInnen in die Hauptschule. Die Auswahl funktionierte zugespitzt so: Am Ende von Klasse vier fragt der Lehrer: Wer von euch ist arm? Wer spricht schlecht Deutsch? Wer hat miese Noten? Wer ist schon einmal sitzen geblieben? Alle, die sich melden, werden in der Hauptschule oder neu, in der Gemeinschaftsschule versammelt, der institutionalisierten Parallelgesellschaft.

Sämtliche Schwächen des deutschen Bildungssystems – die frühe Auslese, die Konzentration auf den Vormittag, die ungenügende individuelle Förderung, die Zersplitterung der Institutionen – treffen Einwandererkinder am härtesten. Bislang hat die Politik wenig gegen diese Benachteiligungen getan. Das bedeutet keineswegs, Mütter und Väter von der Verantwortung für ihre Kinder zu entbinden. Die Unterstützung durch das Elternhaus bedingt den Schulerfolg – in Deutschland mehr als anderswo. Seit Pisa wissen wir: In keinem anderen Industrieland hängt die Zukunft so sehr von der Herkunft ab. Eben weil der Unterricht hierzulande bereits am Mittag zu Ende ist, weil die Schule erwartet, dass Eltern bei den Hausaufgaben helfen oder bei Problemen Nachhilfe zahlen, haben es Migranten schwer.

Dabei stimmt es keineswegs, dass Migranteneltern sich für die Schule ihrer Kinder nicht interessieren. Alle Umfragen zeigen das Gegenteil: Die Bildungsambitionen vieler türkischer oder russischer Eltern sind hoch. Existierenden Hilfsangeboten mangelt es selten an Zuspruch. Nahezu alle Eltern schicken ihre Kinder zu den vorschulischen Sprachkursen. Die letzte Jubelmeldung dazu – Anmeldequote 96 Prozent – kam ausgerechnet aus Hessen.

Als besonders vielversprechend haben sich Programme erwiesen, in denen MigrantInnenmütter anderen Müttern Erziehungstipps und Bildungsinformationen geben. Die Kurse erreichen jedoch nur wenige Eltern – nicht weil es auf Seiten der MigrantInnen an Freiwilligen mangelt, sondern weil das Geld fehlt, diese zu organisieren.

Die Schulen können nicht der Reparaturbetrieb für eine verfehlte Einwanderungspolitik sein, heißt es immer wieder. Doch wer sonst könnte helfen? In der Rückschau mag es ein Fehler gewesen sein, Millionen ungelernter ArbeiterInnen nach Deutschland zu holen und nicht akzeptieren zu wollen, dass diese dauerhaft bleiben. Für die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder hilft uns diese Einsicht nicht weiter. Weil sie mittlerweile unsere Kinder und Kindeskinder sind – und damit zukünftige RentenzahlerInnen, FacharbeiterInnen, LehrerInnen und IngenieurInnen werden können. Wenn es gut läuft. Bislang sieht es nicht danach aus.

csk