Die „innere Front“ zerbricht
Friedrich Ebert hatte in seinem Plädoyer für den Eintritt der Sozialdemokratie in die Regierung des Prinzen Max von Baden erklärt: „Wollen Sie jetzt keine Verständigung mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung, dann müssen wir die Dinge laufen lassen. Dann greifen wir zur revolutionären Taktik, stellen uns auf die eigenen Füße und überlassen das Schicksal der Partei der Revolution. Wer die Dinge in Russland erlebt hat, der kann im Interesse des Proletariats nicht wünschen, dass eine solche Entwicklung bei uns eintritt. Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen.“
Der Vorsitzende der Generalkommission der deutschen Gewerkschaften, der Kieler Reichstagsabgeordnete Carl Legien, begründete die Regierungsbeteiligung und die Abstellung seines Stellvertreters Gustav Bauer zu diesem Zweck laut Protokoll der Konferenz der Vertreter der Verbandsvorstände vom 4. Oktober mit den Worten, „die Lage sei außerordentlich ernst, sie gleiche derjenigen vom August 1914 und heute wie damals hätten die Gewerkschaften die Pflicht, sich der Landesverteidigung zur Verfügung zu stellen.“ Und wie 1914 für den Beginn des Krieges, so wurde die SPD nun für die Fortsetzung des Massenschlachtens bis zum allerletztmöglichen Augenblick gebraucht. Das Berliner Organ der Zentrumspartei, die „Germania“, hatte geschrieben: „Es handelt sich doch nicht um die Westfront allein, sondern auch um eine neue, zur Abwehr des Bolschewismus nötige Ostfront, und dabei können wir die Mitwirkung der Sozialdemokratie ebenso wenig entbehren wie bei der ersten.“
Innenpolitisch setzte die SPD nicht einmal ihre „Bedingung“
für den Regierungseintritt, die vollständige Aufhebung der Zensur
und die Wiederherstellung der Versammlungsfreiheit durch. Wozu auch – „Ruhe
und Ordnung“ war doch auch ihr erster Appell an die Massen, wobei sie die
Unzufriedenheit und revolutionäre Gärung unter den Arbeitern
und Soldaten allerdings deutlich unterschätzte. Festhalten musste
die SPD in dieser Stunde natürlich an einer ihrer zentralen Forderungen,
der endgültigen Beseitigung des Dreiklassen-
Wahlrechts in Preußen. Aber auch hier versuchten
führende Sozialdemokraten noch, den Herrschenden die Angst vor den
Folgen solcher Reform zu nehmen. Im Leitartikel des gewerkschaftlichen
„Correspondenz-
blatts“ hieß es am 5. Oktober 1918: „Sofern man
nicht den Weg über den Reichstag gleich einschlagen will, muß
die sofortige Auflösung des Landtags erfolgen. Der Wahlkampf, vor
dem sich gewisse Kreise aus politischen, andere aus Gründen der Vaterlandsverteidigung
fürchten, kann weder in der einen, noch in der anderen Beziehung Schaden
anrichten, sondern er wird ausschließlich nützlich sein, ein
Ventil, das dem Ingrimm der Volksmassen Luft verschafft. Hier schnell zugegriffen,
ist, was wir in allererster Linie von der neuen Regierung erwarten.“
Im „Spartacus“-Brief Nr. 12 schrieb Rosa Luxemburg über
das Kabinett Max: „Der historische Sinn und Zweck solcher ‚Reformministerien’
in letzter Stunde, bei heraufziehendem Vollgewitter, ist stets derselbe:
die ‚Erneuerung’ des alten Klassenstaates ‚auf friedlichem Wege’, d.h.
die Änderung von Äußerlichkeiten und Lappalien, um den
Kern und das Wesen der alten Klassenherrschaft zu retten, um eine radikalen,
wirklichen Erneuerung der Gesellschaft durch die Massenerhebung vorzubeugen.
Das historische Schicksal dieser Ministerien der zwölften Stunde ist
auch stets dasselbe: Sie sind durch ihre innere Halbheit und ihren inneren
Widerspruch mit dem Fluche der Ohnmacht beladen. Das Volk empfindet sie
instinktiv als einen Schachzug der alten Mächte, um sich am Ruder
zu erhalten. Die alten Mächte misstrauen ihnen als unzu-
verlässigen Dienern ihrer Interessen. Die treibenden
Kräfte der Geschichte, die das Reformministerium erzwungen haben,
eilen alsbald über dasselbe hinaus. Es rettet nichts und verhindert
nichts. Es beschleunigt und entfesselt nur die Revolution, der es vorbeugen
soll.“ Und der Artikel schließt mit den Worten: „Die Scheidemann
und Bauer, die jetzt mit einem Kuss auf die Hand der deutschen Monarchie
beginnen, werden noch mit blauen Bohnen gegen streikende und demonstrierenden
deutsche Arbeiter enden. Der Regierungs-
sozialismus stellt sich (…) als Retter des Kapitalismus
der kommenden proletarischen Revolution in den Weg.“ Rosa Luxemburgs Hoffnung
und Erwartung: „Die proletarische Revolution wird über seine Leiche
hinwegschreiten. Ihr erster Ruf, ihre erste Etappe muss sein: Deutschland
– Republik.“
Der erste Ruf. Dabei war ihr klar, was sie einen Monat später, nach dem Beginn der Revolution, in der „Roten Fahne“ betonen sollte: „… die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus. Nicht der Hohenzoller hat den Weltkrieg entfacht, die Welt an allen Ecken in Brand gesteckt und Deutschland an den Rand des Abgrunds gebracht. Die Monarchie war wie jede bürgerliche Regierung die Geschäftsführerin der herrschenden Klassen. Die imperialistische Bourgeoisie, die kapitalistische Klassenherrschaft – das ist der Verbrecher, der für den Völkermord verantwortlich gemacht werden muss. Die Abschaffung der Klassenherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung – dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution.“
Wie wir am Schluss der letzten Folge dieser Serie gesehen
haben, war das den deutschen Industriellen durchaus bewusst. Die öffentlich
bekundete Revolutionsfeindlichkeit und die deutlicher nicht zu demonstrierende
Naivität der Gewerkschaftsführungen bewog sie, ausgerechnet diese
als die besten Verbündeten anzusehen beim Versuch, ihren Besitz und
ihre Macht zu retten. „Kein Frieden um jeden Preis!“ war zunächst
einmal die Losung der SPD und der freien Gewerkschaften, und beide ließen
noch am 22. Oktober 1918 „Ein ernstes Wort in ernster Stunde!“ plakatieren,
das unter anderem so lautete: „Heute haben alle Bewohner des Vaterlandes,
ob arm oder reich, die gleiche Not, nämlich den eroberungssüchtigen
Feind vom deutschen Lande fernzuhalten. Brechen wir jetzt zusammen, so
muß das ganze Volk es für eine lange Zukunft büßen.
Wir sind deutsch bis auf die Knochen und wollen deutsch bleiben. Das Unglück
wäre unübersehbar, wenn der Feind ins Land käme. Täuscht
Euch darüber nicht und tretet allen denen scharf entgegen, die da
mit dem Feuer spielen. Verachtet die Flaumacher! Vernichtet nicht durch
Kleinmut, Gleichgültigkeit und Selbstsucht Euer ganzes Zukunftsglück!
Sollte unsere Regierung durch die Unerbitt-
lichkeit und den Übermut gegnerischer Gewalthaber
gezwungen sein, das Volk zum Entscheidungskampfe aufzurufen, um die
Vernichtung unseres Reiches abzuwehren, dann müssen wir alle wie ein
Mann aufstehen und auch das Letzte hergeben für die Freiheit und die
Zukunft unseres Vaterlandes!“ Weitere Unterzeichner dieses Aufrufs waren
zum Beispiel die Christlichen Gewerkschaften, die Hirsch-
Dunckerschen Gewerkvereine, die Zentrumspartei, die Nationalliberale
Partei, die Konservative Partei, die Fortschrittliche Volkspartei, der
Bund der Landwirte, der Ausschuß für Kriegshilfe, der Vaterländische
Frauenverein und der Katholische Frauenbund.
Allen solchen Appellen zum Trotz machte die Kriegsmüdigkeit und die Zersetzung des Heeres auch nach dem Friedensersuchen der Regierung Max an den amerikanischen Präsidenten Wilson, das am 5. Oktober herausging, rapide Fortschritte. Die von der SPD eingeforderte „Geschlossenheit der inneren Front“ wurde endgültig zur Illusion. Man glaubte nicht mehr an die nationalistischen Phrasen, die angebliche Überwindung der Klassengegensätze im Kampf gegen den äußeren Feind. Revolutionäre Arbeiter in verschiedenen Städten, meist Angehörige oder Anhänger der USPD, bereiteten sich auf eine revolutionäre Erhebung vor, schufen illegale Kampforganisationen und legten Waffenlager an, und auch die Organisation der klassenbewusstesten und revolutionärsten Arbeiterinnen und Arbeiter, der Spartakusbund, verstärkte ihre Agitation und Propaganda in den Betrieben und im Heer. Ein ganz anderer Entscheidungskampf als der von den Regierungssozialisten beschworene nahte. Als dann am 28. Oktober die Flotte zu einem „Endkampf“ auslaufen sollte und die Matrosen sich diesem Gemetzel verweigerten, war der Prozess nicht mehr aufzuhalten, der im November die Monarchie hinwegfegte und die Macht im Staat in die Hände der ArbeiterInnen und Soldaten gab.